Der Eunuch
Überlegenheit eingebüßt, aber dadurch bei Julienne nur gewonnen. Sie dachte wie er, und daraus schloß sie, daß ihm ähnliche Zweifel, wie sie sie gehabt hatte, nicht erspart geblieben seien, Zweifel, über die sie ihn hatte befragen wollen.
„Sie sagten“, begann Sie, „die Leibeigenschaft sei die tiefste Erniedrigung und vollständigste Ausbeutung, zu der Menschen jemals gezwungen wurden oder... sich hergaben. Für mich ist der letzte Zusatz, ,oder sich hergaben“, das Schrecklichste.“
„Warum, Julienne?“
„Sie wissen es selbst, Beschir. Mehr Abscheu als vor einer zermürbenden Arbeit, die ihnen kaum die Zeit für ihre kümmerliche Nahrung und einen kurzen Schlaf läßt, mehr Abscheu als vor der Peitsche und jeder nur denkbaren Entwürdigung empfinden diese Menschen also vor dem Denken? Nicht wahr, Beschir, ich habe recht? Lieber Frau und Tochter mißbraucht sehen, lieber unter dem Stock des Fronvogts verröcheln, als nur ein einziges Mal die Mühe des Denkens auf sich zu nehmen. Und wenn wirklich langgestauter Haß als Widerstand und Aufruhr aus ihnen herausbricht, dann befriedigen sie ihn mehr wie Tiere als wie Menschen. Alles nur, weil sie nicht denken mochten.“ Beschir nickte.
„Diese Armseligen haben nur vor Gewalt und Grausamkeit Achtung. Im Grunde erkennen sie nur sich selbst und ihre Ausbeuter als lebensberechtigt an. Ohne sie, die Gedankenlosen, gäbe es keine Tyrannen, und schmerzlich ist den meisten dieser Unterdrückten der Anblick von Menschen, die weder Ausbeuter, nodi Ausgebeutete sein wollen. Begegnen sie ihnen, erfaßt sie eine Wut, auch diese unterjocht zu sehen, wie sie selbst unterjocht sind. Nicht so sehr wegen eines gnädigen Lächelns ihrer Tyrannen tun sie das, sondern zu ihrer eigenen Lust. - Es ist schwer, sich damit abzufinden. Sie, Julienne, sind Christin oder doch christlich erzogen. Vielleicht können Sie mir helfen. Ich habe in euerm Neuen Testament einen sehr dunklen Satz gefunden, der vom Sohn der Maria stammen soll, unserm Propheten Jesus. Er spricht von der Sünde wider den Heiligen Geist als der einzigen, die nie vergeben werden könne. Kennen Sie diese Stelle?“ „ Iich kenne sie; aber wo sie steht, kann ich so genau nicht sagen. Übrigens ist sie wirklich dunkel.“
„Mit euern drei Göttern und deren Frau und Mutter Maria, habe ich als Anbeter eines einzigen, des wahren Gottes nichts zu schaffen“, fuhr Beschir fort, „wenn ich aber Christ wäre, würde ich annehmen, daß mit der Sünde wider den Heiligen Geist der grundsätzliche Haß gegen den Geist gemeint sei, die Sünde des Nichtdenkenwollens. Dann freilich müßte ich bedauern, daß die Stelle nicht im Koran steht. Mit Flinten und Kanonen allein kann man nicht befreien. Gebt den Gedankenlosen den Gedanken — das ist der einzige Weg. Das befruchtende Wort wird die Führer hervorbringen, Männer und Weiber, und zum Glück hat Allah es so gefügt, daß nicht alle Unterdrückten wider den Geist sind.“
Julienne sah ihn mit glänzenden Augen an.
„Oh, Beschir ...“ Weiter kam sie nicht.
Eine Pause entstand.
„Was meinten Sie, Julienne?“
„Sie sagten, die Bibelstelle sei von einem Gott, der nicht Ihr Gott sei, und verständlich sei sie auch nidit. Aber wenn nicht die Stelle selbst, so ist doch die Auslegung klar. Wie kann dem vergeben werden, der sich nie einer Schuld bewußt zu werden vermag, weil er nicht denken will ? Das ist von keinem Propheten und von keinem Gott. Diese Auslegung ist von Ihnen, und Sie, Beschir, sind ein Mensch.“
Der Mensch Beschir enthielt sich jeglicher Anmerkung, und auch Julienne faßte sich schnell. Eine neue Erkenntnis machte sie froh und nicht rührselig. Beschir tat lediglich das, worin er vorhin von Julienne unterbrochen worden war: Von neuem legte er seine Hände an die schweren Schiebetüren, und wie durch Zauberei flogen sie lautlos auseinander.
„Wenn ich das gewußt hätte!“ rief Julienne, wobei der Ton ihrer Stimme keinen Zweifel darüber ließ, daß sie sich dann schon vorher einen Einblick in den weit größeren Raum verschafft hätte, der sich ihr nun öffnete.
„Eine Spielerei, wenn Sie so wollen“, erklärte Beschir. „Eine Anordnung von Gewichten - nichts weiter. Sie sind in die Wände eingelassen, und in Wirklichkeit regieren die Gewichte die Türen. Da Sie gerade hier sind, Julienne . .. man soll die Neugier der Damen nicht unbefriedigt lassen ..Beschirs Worte spiegelten eine kleine Eitelkeit. Er hatte eine Freude an der Mechanik
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