Der Eunuch
Sprachknabe Latour hatte die ganze Zeit am Fenster gestanden und schien nun etwas Besonderes zu bemerken .. . Bald bestand kein Zweifel mehr: statt bloßer Nachrichten über den Aufruhr kam er selbst. Ein roter Wurm kroch vom Goldenen Horn Galata hinan. Es war ein einziger Leib. Keine Häuser wurden geplündert, keine Feuersbrünste angelegt. Ein festes Ziel schien der Wurm zu haben. Was wollte er?
Die Teleskope traten in Tätigkeit.
„Lauter rote Kopfbinden!“ rief Caspar Momars, der kaiserliche Dolmetsch. „Ein wunderbarer Einfall! Sehen Euer Hochwohlgeboren?'“ Damit gab er dem Sprachknaben Mayer, der neben ihm stand, sein Fernrohr. „Ihr habt gute Augen, junger Mann, vielleicht seht Ihr mehr.“
„Gesindel!“ grollte Herr von Talmann.
,Gesindel“, dachte Mayer, natürlich Gesindel. Alles, was nicht Pascha, Aga, Bey oder Großkaufmann sei, zähle für Menschen wie die halbe Exzellenz zum Gesindel. Nun, Paschen seien bestimmt nicht unter den Kopfbinden und reiche Leute kaum - höchstens ein oder der andere, der auf die Revolte spekuliere. Nun ja, Leute aus den Gefängnissen könnten auch dabei sein; aber die meisten dürften morgen oder übermorgen, wenn alles vorbei sei, wieder auf ihrem Schusterschemel sitzen, an ihrem Schmiedefeuer stehen, Kleider nähen. Lasten tragen, Schiffe rudern ... es sei das Volk, das werktätige Volk, das da als roter Wurm heraufziehe und das — jetzt sehe man es - dem Palast des Woiwoden zustrebe.
„Gesindel, nichts als Gesindel“, wiederholte Herr von Talmann, „jetzt mit einigen Batterien da hineingepfeffert oder mit Pelotonfeuer ...“ Wollust überkam ihn bei dem Gedanken an Donnern und Knallen, an geworfene, schreiende, sich windende Leiber, an strömende Blutbäche, die Straßen hinab bis zum Goldenen Horn, bis zum Bosporus, immer weiter . . . Und doch war er ein Mensch, mehr oder weniger gut und nicht besonders böse, gelegentlich großmütig und zuweilen kleinlich, nicht ohne Ängste und, wenn die Gefahr nicht allzu sehr schreckte, mitunter sogar nicht ganz ohne Mut. Auch besaß er einiges Wissen, auf das er sehr stolz war, vor allem auf sein Buch, das er geschrieben hatte. Aber diesem Menschen eines etwas gehobenen Durchschnitts blieb nichts als Wille zur Zerstörung und uferloser Haß beim Anblick des Volkes, das sich vermaß, auf sein irdisches Los selbst Einfluß nehmen zu wollen, desselben Volkes, das er Gesindel nannte und das doch die Woge war, auf der er und seinesgleichen schwammen.
Im Tschardak hörte man nur ein allgemeines Brausen, in dem alle Einzelgeräusche verschwanden. Aber man sah. Verschlossen und wie tot stand das umwimmelte Haus da. Doch jetzt wurde die Bewegung der Menge durch eine Absicht aller geregelt.
„Sie rammen das Tor!“ rief einer. „Sie rammen.“
Mit der Kraft vieler Männer wuchtete ein mitgebrachter riesiger Balken gegen die Eichenbohlen. Sie barsten. Und dann gefährdeten die Menschen sich selbst, so heftig waren Sturm und Drang, durch die Splitter ins Innere zu gelangen. Das tote Haus wurde lebendig. Die Tore legten sich vollends nieder, Fenster sprangen auf, und hinter ihnen war ein Gewoge von Menschen. Die ersten Möbel flogen auf die Gasse, ein Mensch folgte. Eine Sekunde schwebte er auf dem Fensterrand - dann hatte Allah gesprochen: der Woiwode von Galata war auf der Straße auf Polster gefallen und am Leben geblieben. Sein Leben ließ man ihm auch. Es war hier nicht wie auf dem Fleischmarkt, wo man die Gehaßten, deren man habhaft wurde oder die das Serail hatte ausliefern müssen, zusammenhieb. Nicht zu töten war man gekommen, nur um zu plündern. Alles, was sich fortschleppen ließ, war Beute, und bald balgte man sich um wertlose Fetzen, während vielleicht daneben ein anderer verstohlen einen kostbaren Gegenstand verschwinden ließ. Wer kühlen Kopfes blieb, konnte sich bereichern. Aber wer blieb schon kühl in der allgemeinen Gier? Das Haus, soeben noch eines der reichsten - nur wenigen Plünderern trug es Gewinn ein. Dienstboten wurden aus dem Hause gestoßen oder flüchteten selbst. Jeder konnte sich ihrer bemächtigen, und die Ausgetriebenen hätten den Herrn gewechselt. Aber wer griff schon zu? Diese Handwerker und kleinen Leute konnten sich keine herrschaftlichen Diener leisten. Der Schuster brauchte Schuster und der Tischler Tischler. Von solchen Hantierungen aber verstanden diese gutgekleideten und wohlgesittenen Menschen nichts. Junge Burschen, Knaben ... die freilich hätte man nicht verschmäht.
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