Der Eunuch
warten müssen, ob die Pforte ihn zu dem höheren Amt erheben oder nicht erheben werde. Statt dessen befand er sich nun zwar auch in Brusa, aber als der dritthöchste Geistliche der Monarchie, der sich im Besitz dieser ihm vom Aufstand verliehenen Würde gegen etwaige Absetzungsgelüste der Pforte glaubte sichern zu müssen. Um Ruhe zu finden, dachte er zu viel an jene Nacht im Basar und seine Unterredung mit dem Kislar. So oft dachte er daran, bis ihm Zweifel kamen, ob er auf dessen Gewogenheit auch wirklich rechnen könne. Deswegen befand sich Sulali Efendi unterwegs auf den Gassen von Brusa. Er durfte den Mann in dem bescheidenen Haus an der Moschee Murads I. als einen Höherstehenden nicht zu sich entbieten. Dieser Mann war Kaplangirai. Im Osmanischen Reich gab es wohl privilegierte Familien: die Nachkommen des Propheten, die in der ganzen Welt des Islams verehrt wurden, und dann durch Gewohnheitsrechte die Ulema. In den ersten Generationen beginnender Herrschaft spielten außerdem noch die Nachkommen der Gefährten Osmans eine Rolle. Sie waren der Ansatz zu einem weltlichen Adel gewesen. Aber diese Familien hatten sich allmählich in der Menge verloren und mit ihnen ihre Privilegien. Einige wenige Male tauchte in der neueren Geschichte noch hier und da der Name eines Michailoglu auf, in dessen Familien das Generalat der Akindschi erblich gewesen war. Doch ein straffer Militärstaat wie die Türkei konnte sich auf die Dauer keine Erbgeneräle leisten. Wohl konnten Fehlgriffe und Begünstigungen Vorkommen, aber zuletzt mußte die Leistung entscheiden. Auch das Zivilleben war dem Heeresdienst unterworfen: die Gläubigen waren die Soldaten des Padischah, die Rajah, die kaiserlichen christlichen Untertanen, hatten für Waffen, Munition, Kleidung, Proviant und Transport zu sorgen. Diesem System waren die abendländischen Ritterheere lange Zeit nicht gewachsen gewesen. Bei Mohacs war von den ungarisch-europäischen Streitkräften nicht so viel übriggeblieben, um daraus noch eine Kompanie bilden zu können. Aber nach dem fast völligen Verlust der türkischen Flotte bei Lepanto hatte es nur bis zum nächsten Frühjahr gedauert, und die Flotte des Großherrn war von den Dardanellen stärker als je zuvor ausgelaufen.
Schon allein der Umstand, daß der gesamte Grundbesitz dem Padischah gehörte und Teile davon niemals übereignet, sondern nur auf Zeit und höchstens auf Lebenszeit verliehen werden konnten, ließ in der Türkei einen Feudaladel nicht aufkommen. Nicht einmal ein Geldadel konnte sich bilden. Kein Reicher durfte hoffen, sein Vermögen der eigenen Familie zu vererben, wenn er nicht dessen größten Teil dem Padischah vermacht hatte, und Besitzbeschlagnahme bei Absetzung und dem Todesfall eines Beamten, der zur Bereicherung Gelegenheit gehabt hatte, war so sehr die Regel, daß eine Ausnahme von ihr in den Annalen vermerkt wurde. Mochten sich die Großen vollsaugen wie Schwämme, was sie denn auch taten, zuletzt floß alles wieder dem Padischah zu und damit dem Staatsschatz.
Das milderte die Gefahren der Korruption und förderte zugleich die religiösen und kulturellen Bestrebungen. Was konnten die Großen und Reichen mit ihrem Gelde beginnen, das wie Grundbesitz ebenfalls nur auf Zeit verliehen war? Sie errichteten Moscheen, Bäder, Armenküchen, Bibliotheken, stifteten Lehrerstellen, Stipendien . . . Während Großwesir Ibrahim Pascha seine prächtigen öffentlichen Bibliotheken für jedermann in Konstantinopel baute, lief in Wien der große Leibniz vergebens umher, um das Geld für die von ihm geplante Akademie aufzutreiben. Nichts bekam er.
Wenn aber auch im Osmanischen Reich weder Erbadel noch Geldadel hatte entstehen können, so gab es doch zwei Familien mit gesetzlich verbürgten Vorrechten: die Familie Osman und die Familie Girai. Wer auch Kaiser sein mochte - aus der Familie Osman mußte er sein, und nur ein Girai konnte auf das Polster der Krimkhane gelangen. Die Girai waren erweislich Nachkommen Dschingiskhans und als Dschingisiden eigentlich vornehmer als die osmanische Kaiserfamilie. Der Eroberer Timur, des türkischen Sultans Bajesid Jilderim Bezwinger, hatte sich immer irgendeinen unbedeutenden Dschingisiden als nominellen Khan seiner vielen Völker gehalten, um damit einer Vorstellung zu genügen, die den Vorfahren der Untertanen einst von Dschingis selbst eingeimpft worden war.
Mit den Girai verhielt es sich freilich anders. Sie waren wirkliche Tatarenkhane und hatten jahrhundertelang
Weitere Kostenlose Bücher