Der ewige Gaertner
Männer aus aller Herren Länder an einem Tisch mit ihr gesessen und ihre sexuelle Güteklasse sowie Verfügbarkeit einzuschätzen versucht hatte. Sie lauschte Berichten über Gegenden, von denen sie noch nie gehört hatte, über haarsträubende Abenteuer, die sie, wie sie glaubte, nie bestehen könnte, und gab sich dabei alle Mühe, so zu tun, als kenne sie sich bestens aus und sei nicht sonderlich beeindruckt. Momentan führte ein großspuriger Yankee aus New Jersey das Wort, der Hank the Hawk genannt wurde. Judith zufolge war er ein ehemaliger Boxer und Kredithai, der sich in die Entwicklungshilfe gestürzt hatte, als Alternative zu einem Leben als Verbrecher. Er verbreitete sich über die verfeindeten Splittergruppen in der Nil-Region: wie die SPLE zeitweilig der SPLM in den Arsch gekrochen sei; wie die SSIM einen Vernichtungsfeldzug gegen eine andere Buchstabenkombination führe, deren Männer abschlachte, deren Frauen verschleppe, deren Vieh stehle und ganz allgemein einen Beitrag zu den Millionen Toten leiste, die der hirnlose Bürgerkrieg im Sudan bereits gefordert habe. Und Ghita nippte an ihrem Bier und hörte angestrengt lächelnd zu, denn anscheinend war Hank the Hawks Monolog ausschließlich an sie gerichtet, die Neue am Tisch und seine nächste Eroberung. Umso dankbarer war sie daher, als eine dicke Afrikanerin undefinierbaren Alters in Shorts und Turnschuhen und mit einer Schirmmütze, wie Londoner Straßenhändler sie trugen, aus dem Dunkel auftauchte, ihr auf die Schulter schlug und brüllte: »Ich bin Sarah aus dem Sudan, Kleine, und du musst Ghita sein. Man hat mir gar nicht gesagt, wie hübsch du bist. Komm, lass uns einen Tee trinken.« Und dann führte sie Ghita umstandslos durch ein Labyrinth von Bürohütten zu einem tukul , das wie eine Strandhütte auf Stelzen aussah; die Einrichtung bestand aus einem Einzelbett, einem Kühlschrank und einem Bücherregal, in dem die klassische englische Literatur von Chaucer bis James Joyce aufgereiht war.
Und davor gab es eine winzige Veranda mit zwei Stühlen, wo man unter den Sternen sitzen und gegen die Insekten ankämpfen konnte.
***
»Wie ich höre, soll Arnold jetzt verhaftet werden«, sagte Sarah ruhig, nachdem sie Tessas Tod gebührend beklagt hatten. »Tja, das ist wohl nur konsequent. Wenn man die Wahrheit vertuschen will, muss man erst einmal eine andere Wahrheit erschaffen, damit die Leute nicht unruhig werden. Sonst fragen sie sich am Ende noch, ob die richtige Wahrheit nicht noch irgendwo da draußen lauert, und das geht natürlich nicht.«
Eine Lehrerin, dachte Ghita. Oder Erzieherin. Gewohnt, ihre Gedanken vor unaufmerksamen Kindern auszubreiten und zu wiederholen.
»Nach dem Mord kommt die Vertuschung«, fuhr Sarah genauso bedächtig fort. »Und wir dürfen nicht vergessen, dass eine gute Vertuschung wesentlich schwieriger zu bewerkstelligen ist als ein dilettantischer Mord. Mit einem Verbrechen kommt man vielleicht irgendwie davon. Aber wenn man etwas vertuscht, landet man garantiert im Gefängnis.« Sie veranschaulichte das Problem mit ihren großen Händen. »Man vertuscht hier etwas, und schon kommt da etwas raus. Also deckt man auch das noch zu. Aber kaum dreht man sich um, ist die erste Stelle wieder undicht. Und dann dreht man sich erneut um und merkt, dass an einer dritten Stelle was rauskommt. Irgendwo guckt immer ein Zeh unter der Decke hervor, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Also was soll ich dir sagen, Kleine? Ich hab das Gefühl, wir reden nicht über die Dinge, über die du gern reden würdest.«
Ghita ging geschickt vor. Justin, sagte sie, versuche sich ein Bild von Tessas letzten Tagen zu machen. Er hätte gern die Gewissheit, fuhr sie fort, dass Tessas letzter Besuch in Loki erfreulich und erfolgreich gewesen sei. Ob Sarah wisse, welchen Beitrag genau Tessa bei diesem Workshop zum Thema Geschlechterrollen geleistet habe? Ob sie vielleicht einen Vortrag gehalten habe, basierend auf ihren juristischen Kenntnissen oder ihren Erfahrungen mit Frauen in Kenia? Ob sich Sarah an irgendein Ereignis oder irgendeinen schönen Augenblick erinnere, etwas, das Justin interessieren könnte?
Sarah hörte sich das alles gelassen an, ihre Augen unter der Schirmmütze funkelten, und sie nippte an ihrem Tee, während sie unablässig die Moskitos abwehrte und Leute grüßte, die vorbeigingen – »Hallo, Jeannie, du schlimmes Mädchen! Was treibst du dich mit Santo rum, diesem Nichtsnutz? Du willst Justin von all dem hier
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