Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der ewige Gaertner

Der ewige Gaertner

Titel: Der ewige Gaertner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
Vom Netzwerk:
den man allein deshalb kennen sollte, weil er einem aus der Klemme half, wenn man eine Dinnerparty gab und einem ein einzelner Herr fehlte. Dazu tadellose Umgangsformen und wahrscheinlich schwul – in diesem Punkt verfügten allerdings einige der attraktiveren Ehefrauen über andere Informationen, wenn sie diese auch nicht preisgaben.
    »Justin, sind Sie das? Hier Haggarty. Sie waren im College ein paar Jahrgänge über mir. Passen Sie auf, der Staatssekretär soll morgen in Cambridge eine Rede vor einem Haufen aufstrebender Jungjuristen halten. Das Problem ist nur: Er kann nicht. Er muss in einer Stunde nach Washington –«
    Und Justin, der gute Junge, ging die Sache bereits in Gedanken durch: »Tja, wenn der Vortrag schon geschrieben ist – also, ich meine, wenn es nur darum geht, ihn abzulesen –«
    Haggarty fiel ihm ins Wort: »Sein Wagen steht um Punkt neun Uhr mit Fahrer vor Ihrer Tür, keine Minute später. Der Vortrag ist Schrott. Er hat ihn selbst verfasst. Sie können ihn sich auf der Fahrt zu Gemüte führen. Justin, Sie sind ein echter Kumpel.«
    Hier stand er also, der Eton-Kumpel, nachdem er den ödesten Vortrag gehalten hatte, der ihm jemals untergekommen war – geschwollen, von oben herab, genauso geschwätzig wie sein Autor, der inzwischen wahrscheinlich den ganzen Luxus genoss, der einem Staatssekretär in Washington DC nur zustand. Auf den Gedanken, dass er sich vielleicht Fragen aus dem Publikum würde stellen müssen, war Justin überhaupt nicht gekommen. Als nun aber Tessa die ihre losgeworden war, kam es ihm ebenso wenig in den Sinn, die Antwort zu verweigern. Tessa saß im geometrischen Mittelpunkt des Saals, und da gehörte sie auch hin. Justin drängte sich, als er die Fragerin erspähte, der törichte Eindruck auf, dass ihre Kollegen aus Ehrerbietung vor ihrer Schönheit rund um sie herum einige Plätze freigelassen hatten. Der Kragen ihrer weißen Bluse reichte, wie der eines untadeligen Chormädchens, bis an ihr Kinn. Ihre Blässe und die geisterhafte Zartheit ließen sie wie verloren aussehen. Man verspürte den Wunsch, sie in eine Decke einzuwickeln und zu beschützen. Die durch das Oberlicht dringende Sonne brachte ihr dunkles Haar so zum Glänzen, dass er ihr Gesicht zunächst gar nicht ausmachen konnte. Mehr zu ahnen als zu erkennen waren die breite, blasse Stirn, die großen, ernsten Augen und das runde, energische Kinn. Doch das Kinn kam erst später. Vorerst war sie ein Engel. Was er nicht wusste, jedoch nur zu bald entdecken sollte, war die Tatsache, dass dies ein kämpferischer Engel war.
    »Nun – ich vermute , die Antwort auf Ihre Frage wäre« – hob Justin an –, »und korrigieren Sie mich bitte, falls Sie anderer Meinung sind –« womit er den Graben zwischen den Generationen und den Geschlechtern überbrückte und generell den Eindruck vermittelte, sie seien gleichberechtigte Gesprächspartner-, »dass ein Staat nicht mehr als Staat gelten kann, wenn er nicht in der Lage ist, seine elementarsten Pflichten zu erfüllen. Könnten Sie dem grundsätzlich zustimmen?«
    »Die elementarsten Pflichten wären welche?«, gab der verlorene Engel zurück.
    » Nun –« begann Justin erneut, nicht mehr sicher, worauf er eigentlich hinauswollte, und nahm zunächst Zuflucht zu Gesten, die nicht als Paarungssignale missverstanden werden und ihm daher, so hoffte er, Schutz oder sogar Immunität sichern konnten. » Nun –« eine gequälte Handbewegung, der Zeigefinger des Eton-Absolventen tippte gegen die ergrauende Kotelette, sank wieder herab. »Ich würde sagen, dass heutzutage als Voraussetzungen für einen zivilisierten Staat , grob gesprochen, gelten könnten: das Wahlrecht, ähm – Schutz von Leben und Eigentum – ähm, ein funktionierendes Rechtssystem, Gesundheit und Bildung für alle, wenigstens zu einem gewissen Grad – dann die Aufrechterhaltung einer intakten administrativen Infrastruktur – und Straßen, Güterverkehr, Kanalisation und so weiter – und – ja, was noch? – ah ja, eine gerechte Steuererhebung. Wenn ein Staat nicht wenigstens ein Minimum der genannten Dinge gewährleisten kann – dann muss man wohl sagen, dass der Vertrag zwischen Staat und Bürgern auf einer ziemlich wackeligen Grundlage steht. Und wenn er in allen diesen Punkten versagt, dann könnte man von einer Bankrotterklärung sprechen. Mit einem solchen Staat wäre kein Staat mehr zu machen.« Ein Witz, aber keiner lachte. »Beantwortet das Ihre Frage?«
    Er hatte angenommen, der Engel

Weitere Kostenlose Bücher