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Der ewige Gaertner

Der ewige Gaertner

Titel: Der ewige Gaertner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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wollen«, verkündete er in sehr viel förmlicherem Ton, quer durch den Saal an sie gerichtet, während das Gelächter gehorsam erstarb, »dann haben Sie in der Tat den Finger auf den wunden Punkt gelegt, der buchstäblich uns allen in der internationalen Gemeinschaft zu schaffen macht. Wer hat denn eine weiße Weste? Wie muss eine ethisch fundierte Außenpolitik aussehen? Nun gut. Einigen wir uns darauf, dass es so etwas wie ein liberaler Humanismus ist, der die besseren Nationen heute verbindet. Was uns aber trennt , ist genau die Frage, die Sie gestellt haben: Wann wird ein vorgeblich humanistischer Staat zu repressiv, als dass wir ihn noch akzeptieren könnten? Was passiert, wenn unsere nationalen Interessen bedroht sind? Wer ist dann der Humanist? Mit anderen Worten, wann drücken wir den Alarmknopf, der die Vereinten Nationen herbeiruft – angenommen, sie folgen dem Ruf, was wiederum eine ganz andere Frage ist? Denken Sie an Tschetschenien, an Burma, an Indonesien – an drei Viertel der so genannten Entwicklungsländer –«
    Und so weiter, und so fort. Metaphysische Schaumschlägerei der übelsten Sorte, wie er umstandslos bereit gewesen wäre zuzugeben, aber er paukte sie damit heraus. Eine Art Diskussion entwickelte sich, Standpunkte wurden eingenommen und Banalitäten breitgetreten. Die Sitzung dauerte länger als vorgesehen und wurde daher als Triumph gewertet.
    »Ich würde gerne einen Spaziergang mit Ihnen machen«, sagte Tessa zu Justin, als sich die Teilnehmer zerstreuten. »Sie könnten mir von Bosnien erzählen«, fügte sie wie entschuldigend hinzu.
    Sie gingen durch die Gärten von Clare College, und anstatt ihr von dem verdammten Bosnien zu erzählen, erklärte Justin ihr jede einzelne Pflanze. Mit Vor- und Zunamen, und wovon sie sich ernährte. Tessa hielt seinen Arm und hörte still zu, abgesehen von gelegentlichen Fragen wie »Warum machen sie das?« oder »Wie geht denn das?«. Und dies hatte zur Folge, dass er die ganze Zeit redete, wofür er zunächst dankbar war, denn dies war seine Methode, andere Menschen auf Distanz zu halten. Das Problem war nur, dass er mit Tessa am Arm weniger ans Distanzwahren dachte als daran, wie zerbrechlich ihre Knöchel in den schweren Stiefeln wirkten, die die Mode derzeit vorschrieb. Sie setzte stetig einen Fuß vor den anderen auf dem schmalen Weg, den sie entlangliefen, und Justin war überzeugt, dass sie nur zu stolpern brauchte, um sich die Beine zu brechen. Und wie leicht ihr Körper im Gehen mitunter gegen den seinen stieß, so als würden sie nicht gehen, sondern segeln.
    Nach dem Spaziergang nahmen sie noch ein spätes Mittagessen in einem italienischen Restaurant ein. Es ärgerte Justin, dass die Kellner mit Tessa flirteten, bis sich herausstellte, dass sie eine halbe Italienerin war, wodurch es ihm irgendwie akzeptabel erschien und er in die Lage versetzt wurde, nebenbei mit seinem Italienisch anzugeben, auf das er recht stolz war. Doch dann bemerkte er, wie ernst sie geworden war, wie nachdenklich, und wie unsicher ihre Hände sich bewegten, als wären Messer und Gabel zu schwer für sie, wie vorher ihre Stiefel im Garten.
    »Sie haben mich beschützt«, erklärte sie, noch immer auf Italienisch, ihr über den Teller gebeugtes Gesicht hinter den Haaren versteckt. »Sie werden mich immer beschützen, nicht wahr?«
    Und Justin antwortete, überhöflich wie immer: Ja, nun, wenn es nötig sein sollte, werde er das selbstverständlich tun. Oder besser gesagt, er werde es versuchen. Soweit er sich später erinnern konnte, waren dies die einzigen Worte, die sie während des Essens gewechselt hatten, obwohl Tessa ihm später zu seiner Verblüffung versicherte, er habe äußerst brillant über drohende Konflikte im Libanon gesprochen, einer Gegend, über die er schon Jahre nicht mehr nachgedacht hatte, ferner über die Dämonisierung des Islams in den westlichen Medien und die lächerliche Haltung westlicher Liberaler, deren Intoleranz nur noch von ihrer Ignoranz übertroffen werde. Es habe sie sehr beeindruckt, mit welcher Leidenschaft er dieses wichtige Thema behandelt habe, was Justin nur noch mehr verwirrte, da – soweit er sich bewusst war – seine Ansichten in dieser Angelegenheit völlig zwiespältig waren.
    Aber dann geschah etwas mit Justin, das sich, wie er teils mit Begeisterung, teils mit Erschrecken registrierte, seiner Kontrolle entzog. Er war ganz aus Versehen in ein wunderbares Theaterstück geraten, das ihn vollkommen gefangen nahm. Er

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