Der Experte: Thriller (German Edition)
Tisch, mit langsamen, kurzen, halb schlurfenden Schritten.
»Was passiert immer?«
»Ich leide unter Migräneanfällen. Nach einem brauche ich immer einen Moment, um mich wieder zu verankern.« Er legte das iPad in seine Tasche, zog den Reißverschluss zu und sah Christine an. »Wenn Sie mich zu einem Hotel fahren könnten – einem in der Nähe –, damit ich meine Schulter in Eis packen und ein paar Stunden schlafen kann, ehe ich aufbreche …«
»Gut. Das mache ich.«
Sie sah zu, wie er zur Tür ging – die Tasche in der Hand, von Kopf bis Fuß mit grauem Staub bedeckt –, und ihr drängte sich der Eindruck eines Mannes auf, der versuchte, verschiedene Welten zu überspannen; ein Akrobat, der von einem Drahtseil aufs andere trat und seine Balance und sein Ziel bei jedem Schritt neu anpasste. Doch wer er auch war – Retter, Rächer, Mörder –, dazuzugehören schien er nirgendwo.
Pfeil und Bogen in Brusthöhe, ging er durch den dichten Wald zwischen Schäften aus bronzefarbenem Licht, die schräg durch das Blätterdach fielen. Er war sieben oder acht Jahre alt, besaß aber den Geist eines Mannes, der wusste, dass er träumte. Er schwebte in dem trüben Korridor zwischen Schlafen und Wachen. Er roch das Harz der Bäume, und gleichzeitig spürte er das leichte Rumpeln der Autoreifen auf der Straße.
Der Junge blieb stehen. Fünfzig Fuß entfernt saß ein kleines Kitz zwischen zwei Bäumen. Die Sonne intensivierte das Rostrot und Gold in seinem gefleckten Fell. Es drehte den Kopf und sah den Besucher an. Die Augen waren braun, funkelnde Edelsteine, die großen Ohren zuckten …
Geiger spürte eine räumliche Verschiebung. Der Wagen schleuderte leicht, und er hörte das kurze Bellen einer Hupe, das durch eine Schicht des Halbbewusstseins in eine andere sickerte. Es hätte der Schrei eines Falken über dem Wald sein können, der ein hilfloses Tier am Boden entdeckte …
Das Rehkitz gab sich alle Mühe, mit seinen knorrigen Beinchen aufzustehen, doch kaum hatte es den Kraftakt zustande gebracht, als seine mageren Gliedmaßen abknickten und wieder zusammensackten.
Der Junge flüsterte: »Was meinst du, wie alt es ist?«
»Sehr jung«, flüsterte eine tiefe, volltönende Stimme in der Nähe. »Frisch geboren.«
»Es will aufstehen. Können wir nicht helfen?«
Der Vater des Jungen stellte sich neben ihn. »Nein.«
Der Junge drehte sich um und blickte seinem Vater in die dunklen, tiefgründigen Augen. »Wieso nicht?«
»Weil es wider die Natur wäre.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte der Junge.
Sein Vater kratzte sich mit den krummen, narbigen Zimmermannsfingern an seinem dichten schwarzen Bart.
»Sohn, alles nimmt seinen natürlichen Lauf. Wenn es älter wäre, würden wir es wegen seines Fleisches töten.«
»Aber es sieht so schwach aus.«
»Das ist nicht von Belang.« Er legte dem Sohn die Hand auf die Schulter. »Warum, glaubst du, leben wir hier oben so, wie wir es tun – abgeschieden von allem und jedem? Die Schwäche in der Welt geht uns nichts an. Wichtig ist, dass wir in uns selbst stark werden. Das ist das Beste für uns.«
Geiger spürte, wie die Bewegungen der Dinge sich verlangsamten, wie das Motorengeräusch tiefer zu klingen begann, wie der rotierende Planet die wechselnde Geschwindigkeit der Räderdrehung aufnahm. Ein Verkehrsstau? Eine rote Ampel? Wieder ein gellendes Hupen …
Der Junge sah in den Himmel. Ein goldener Adler glitt an der Sonne vorbei, groß und bedrohlich wie ein Kampfjet über einem Kriegsgebiet. Der Junge wies mit dem Finger auf ihn.
»Vater … schau!«
Die kurzen weißen Streifen in den großen Raubvogelschwingen leuchteten auf, als der Adler sie nach unten bog und in den Sinkflug ging.
»Er kommt herunter, Vater.« Der Junge drehte sich um – aber sein Vater war verschwunden. Alles, was an ihn erinnerte, war ein kräftiger, bitterer Rauchgeruch. Der Kopf des Jungen fuhr zu dem Kitz zurück. Doch wo es gelegen hatte, strampelte ein neugeborenes Menschenkind in einem schwarzen Tuch, reckte die Ärmchen hoch und erkundete mit unglaublich dünnen Fingern die warme Luft.
In Geigers Gehirn fand ein Tauziehen statt – das Pochen in seiner Schulter meldete sich als Erinnerung an das reale Leben, das versuchte, ihn aus dem Traum zu ziehen. Doch er wollte nicht fort – noch nicht …
Der Junge sah zu, wie der Adler, einem dunklen Engel gleich, in den Wald herabstieg, seine langen Krallen ausgestreckt, die Flügel so weit ausgebreitet, dass ihre
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