Der Experte: Thriller (German Edition)
sie ihn kennengelernt hatte, waren erst zehn Stunden vergangen, doch inzwischen hatte der Schmerz seine Stimme rau gemacht, ihm die Farbe aus dem Gesicht gesogen und ihn im Wortsinne zu Boden geworfen, und daher war der Eindruck, den sie vielleicht von ihm gewonnen hatte – der große, geheimnisvolle Fremde in gefährlicher Mission –, falsch. Er war ein blasser, rätselhafter Verletzter.
»Herr Geiger … der Mann hier ist tot.«
»Ja, das ist er. Er gehört zu den Leuten, die Harry entführt haben.«
»Haben Sie ihn getötet?«
»Nein. Der Wassertank ist auf ihn gefallen. In aller Regel versuche ich, niemanden zu töten.«
Zum ersten Mal bekam sie einen Geschmack von Geigers unverwechselbarer Art – samtweiche Entgegnungen bar jeder Ironie, die vor Sarkasmus zu triefen schienen. Geiger sah, wie sie die Augen zusammenkniff. Er hatte diesen Ausdruck unzählige Male gesehen. Harry nannte es immer das »Geiger-Zuhör-Gesicht«.
»Es war ein Unfall, Christine. Ich würde es vorziehen, wenn er noch am Leben wäre.«
Er wollte sich aufsetzen, vergaß den Zustand seiner Schulter und stützte sich eine halbe Sekunde lang darauf, ehe er sich mit verzerrtem Gesicht zurücksinken ließ.
»Was ist mit Ihrer Schulter?«
»Ausgekugelt. Sie müssen Sie wieder einrenken – falls Sie es können.«
»Sagen Sie mir, was ich tun soll.«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie wissen es nicht?« Christine starrte auf das hässlich verdrehte Gelenk. »O Himmel …«
»Ich hab es hier«, hörten sie.
Sie drehten die Köpfe zu dem iPad, aus der die Stimme kam, und sahen Ezras Monitor mit YouTube. Ezra tippte rasch: W-I-E-R-E-N-K-T-M-A-N-E-I-N-E-A-U-S-G-E-K-U…
»Ich bin’s, Ezra. Ich bin noch dran«, sagte er. »Augenblick.« Er tippte auf ENTER, musterte die Auswahl und klickte auf eine. Ein mit einer Handkamera aufgenommenes Video wurde abgespielt. Schauplatz war eine Notaufnahme im Krankenhaus. Am unteren Ende des Bildes sah man eine Einblendung: KLINIK ST. MICHAEL’S/LEHRKRANKENHAUS. Ein Arzt stand neben einer Transportliege, auf der ein junger Mann mit nackter Brust lag, ein Auge zugeschwollen, im Gesicht eine erstarrte Grimasse. Die linke Schulter war eindeutig ausgekugelt.
Ezra nahm sein iPad und hielt es vor den Monitor. »Hier. Tun Sie, was er tut.«
Christine legte das iPad neben sich. Auf dem Bildschirm ergriff der Arzt das linke Handgelenk des Patienten.
»Als Erstes hebe ich den Unterarm um etwa fünfundvierzig Grad, während ich Druck auf den Oberarm ausübe, und zwar hier am Ellenbogen, um ihn zu fixieren …«
Christine ahmte nach, was sie sah – sie hielt Geigers Handgelenk und presste die andere Hand direkt über dem Ellbogen auf den Oberarm. Sie richtete den Unterarm auf.
»Geht das?«, fragte sie, und Geiger nickte.
»Achten Sie darauf, den Arm dicht am Oberkörper zu halten – nur wenige Zentimeter Abstand. Jetzt werde ich den Oberarm nach außen drehen, sehr langsam, während ich den Unterarm ruhig halte.«
Er drehte den Oberarm vorsichtig auf sich zu, und der Patient begann in kurzen, lauten Stößen zu stöhnen. Christine verzog das Gesicht – ebenso sehr aus Furcht vor dem, was sie tun musste, als auch wegen der berührenden Schmerzenslaute.
»Versuchen Sie gleichmäßig zu atmen«, sagte der Arzt, »und wehren Sie sich nicht gegen die Bewegungen.«
»Machen Sie nur, Christine«, sagte Geiger und schloss die Augen.
Sie drehte den Oberarm zu sich. Ihr Blick zuckte immer wieder zum Bildschirm, um sich zu vergewissern, dass sie die richtige Technik anwandte. Während der junge Mann immer lautere scharfe Bellgeräusche ausstieß, blieb Geiger still, die Lippen zu einer geraden, harten Linie zusammengepresst.
Ezra betrachtete das Video, gefangen in einer undefinierbaren Mischung aus Faszination und Abscheu. Gebannt sah er zu und zuckte bei jedem Heulen zusammen.
»Wenn sich der Widerstand des Armes gegen die Drehung anfühlt, als ob …«
»Ez … ich bin wieder da!«
Der Ruf seiner Mutter von der anderen Seite der Tür beschleunigte seinen Herzschlag vom schnellen zum panischen Tempo. Die Tür öffnete sich, und er hatte gerade genug Zeit, das iPad zu senken und es mit dem Display nach unten abzulegen, ehe sie den Kopf ins Zimmer steckte.
»Was machst du da?«, fragte sie.
»Ich? Äh …« Er schluckte. »Nichts Besonderes.«
Der entsetzliche Schrei des Patienten zog den Blick von Ezras Mutter auf den Monitor. »Mein Gott …« Sie kam herein. »Was siehst du dir denn da
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