Der Experte: Thriller (German Edition)
erlaubt mir noch nicht, es abzurasieren.«
Sie brauchten die Gespräche, weil sie einander brauchten. Sie teilten das Einsamste überhaupt, Verlust und Schuldgefühl, ähnlich wie die einzigen Überlebenden eines Flugzeugabsturzes.
»Ez, hast du in letzter Zeit mit deinem Dad gesprochen?«
Das Gesicht des Jungen verhärtete sich wie eine Faust, die man ballt. »Nein. Der kann mich mal – und Dr. Corley sagt, ich darf noch immer sauer auf ihn sein.«
»Verstehe.« Harry hatte gelernt, die Frage nur einmal zu stellen.
»Morgen gehe ich ins Kino. Willst du dich mit mir treffen?«
»Du weißt, dass ich das nicht machen kann, Ez.«
»Ja, sicher … Ich frag aber trotzdem weiter.« Das Grinsen des Jungen packte und verdrehte etwas in Harry. »Irgendwann wirst du ja schließlich wieder aufhören, dich wie ein totaler Irrer zu benehmen, und begreifen, dass dich keiner einfach in seinen Wagen zerrt, wenn du die Straße langgehst.«
»Paranoid lautet die richtige Bezeichnung, Ez. Ich bin nicht irre, ich bin paranoid.«
»Ich weiß, was paranoid bedeutet, Harry. Darüber bist du schon weit hinaus. Aber keine Sorge. Ich finde dich immer noch cool.«
»Spielst du auch auf deiner Fidel, Kleiner?«
»Ja, sicher. Oft.«
»Dann gehst du wahrscheinlich bald auf Konzertreise, oder was?«
»Na klar. Schon bald. Willst du mein Manager sein? Sollen wir zusammen auf Tournee gehen?«
»Ich bin dabei, Kleiner.« Sie tauschten ein langes Lächeln aus, und Harry unterdrückte einen Seufzer. Sein Small-Talk-Repertoire war auf nichts zusammengeschrumpft. Übrig geblieben war nur die kolossale Präsenz der Person, die zwischen ihnen schwebte und die sie für immer aneinander binden würde.
»Also … geht es dir gut, ja?«, fragte er.
Ezra zuckte mit den Schultern. »Ja. Manchmal. Ich habe immer noch den Albtraum. Du weißt schon … mit Hall auf dem Boot. Wie es kentert. Wie ich untergehe. Dr. Corley sagt, die Träume hören auf, sobald ich einsehe, es war nicht … meine Schuld.« Die letzten beiden Wörter hinkten nach – elende, unerwünschte Nachzügler, die Kümmerlinge des Wurfes. »Die Sache ist nur – es war ja meine Schuld.« Seine Augen glänzten plötzlich, und Tränen liefen ihm die blassen Wangen hinunter. »Scheiße, es tut mir leid«, sagte er und versuchte, sie abzuwischen.
Harry spürte, wie die Gespenster sich wieder sammelten – traurige, stumme Zeugen. Schlimmer als alle Verluste, alles Scheitern war, dass der Junge mit einer schweren Last aus den Sünden Fremder leben musste – den Sünden seines Vaters, Harrys, Geigers, Halls … und so vieler anderer.
»Ez, wir haben doch schon darüber gesprochen. Hör mir gut zu. Hall hat dich gekidnappt. Du hast nichts getan, überhaupt nichts.«
An dieser Stelle waren sie schon früher gewesen. Harry erwog, wieder das Wenn-Spiel zu spielen:
Wenn dein Vater nicht die Foltervideos in die Hände bekommen hätte, wäre Geiger noch am Leben.
Wenn ich Halls Auftragsangebot auf der Website gelesen und entschieden hätte, es nicht anzunehmen, wäre Geiger noch am Leben.
Wenn Geiger den Auftrag abgelehnt hätte, als ich ihm das Angebot vorlegte, wäre Geiger noch am Leben.
Doch stattdessen sagte er nur: »Es ist wirklich nicht deine Schuld, Ez.«
»Warum ist er dann tot, Harry?« Ezra sah verzweifelt aus, krank vor Reue. »Er ist in den Fluss gesprungen, um mich zu retten, Harry. Er ist gestorben, als er mich rettete. Gott … ich spüre noch seine Hände, wie sie mich packen, mich losreißen, mich an die Oberfläche drücken …«
Ezra schniefte. Schuldgefühle waren etwas, was Kinder nicht in großer Stärke empfinden sollten, denn sie hatten noch keine Antikörper gegen dieses Virus entwickelt. Sie waren der sich ausbreitenden Infektion wehrlos ausgeliefert. Die Schultern des Jungen hoben sich langsam mit seinem Seufzen.
»Ich sehe ihn, weißt du.«
»Wie meinst du das – du siehst ihn?«
»Passiert ständig. Er überquert die Straße … Er kommt aus einem Laden. Ich meine, er ist es natürlich nicht, nur jemand, der ihm ähnlich sieht, aber einen Augenblick lang denke ich dann, …«
»Ezra, ich bin wieder zu Hause! In zehn Minuten gibt’s Abendessen!« Es war die Stimme einer Frau.
Der Kopf des Jungen zuckte zur Seite. »Scheiße … Ich muss aufhören. Bye.« Er klappte den Laptop zu. Harrys Bildschirm wurde schwarz.
»Bye«, murmelte Harry und empfand den vertrauten Stich der Hilflosigkeit in seinem Magen. Er schob das Abendessen
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