Der Experte: Thriller (German Edition)
Gelegenheit auf, Ihnen mit meinen eigenen Händen Leid zuzufügen.« Sein Gesicht wurde finster, und sein Atem verlangsamte sich bis fast zum Stillstand. Einen Augenblick lang sah es so aus, als lebte in ihm nichts mehr. Dann ballte er die Hand zu einer stählernen Faust und schwang sie wie eine Abrissbirne, traf den Monitor und schleuderte ihn durch den Raum.
Vom Gang her fragte Victor: »Alles in Ordnung?«
»Ja, Victor.« Dalton seufzte. »Wie ich schon sagte, Geiger – wir können beide nur gewinnen.«
Geiger sah, wie der Triumph hinter Daltons Brillengläsern ganz langsam zur vollen Helligkeit aufflammte. Der Wahnsinn hatte ihm gut gedient und aus Hass und Besessenheit ein Kunstwerk geschaffen.
»Lassen Sie sich Zeit, Geiger. Stehen Sie auf und strecken Sie sich, wenn Sie möchten.« Er ging zur Tür. »Ich bin nur eine oder zwei Minuten lang fort. Falls Sie sich zum Gehen entscheiden sollten, die Hintertür ist unverschlossen.« Dalton verließ den Raum.
Geiger löste alle seine Fesseln, blieb aber auf dem Sessel. Er fühlte sich aus dem Gleichgewicht gebracht. Er hatte sich auf den Schmerz vorbereitet, und auf Wunden – hier ging es nur um Dalton und ihn, und niemand sonst sollte darunter leiden. Das war klar und simpel wie die Mathematik eines Kindes, so war es von Anfang an gewesen. Aber …
Dalton hatte das Leben umgekrempelt, auf brillante Art. Er war der geduldige psychologische Manipulator und Drahtzieher geworden – war der Inquisitor geworden, und wenn Geiger eine Chance wollte, jemanden zu retten, hieß es, dass er sich selbst verstümmeln müsste; er müsste zu Dalton werden.
Der Kellner kam auf den Gehweg heraus und stellte die zweite Espressotasse auf den kleinen quadratischen Tisch. Die umwerfende Amerikanerin bemerkte ihn gar nicht. Sie schien ausgiebig den bescheidenen achteckigen Brunnen der kleinen Stadt zu bewundern, wo die Avenue de Gaulle und die Avenue Jean Jaures einander kreuzten. Kaum ein Auto war unterwegs, kaum ein Passant, und beinahe alle Läden der Gebäude in gedämpftem Blau und Türkis hatten geschlossen.
»Madame, wünschen Sie nun zu speisen?«
Er bekam ein knappes Kopfschütteln zur Antwort.
»Sehr wohl«, sagte er und kehrte ins Café zurück.
Auf der Fahrt nach Süden war Sainte-Cécile-les-Vignes die erste Ortschaft gewesen, die Zanni durchquerte, und nach einer Minute hatte sie die Wahl zwischen zwei Cafés gehabt, die einander zu beiden Seiten der Straße gegenüberlagen. Sie hatte sich für das Café du Commerce entschieden, weil niemand an den sechs Tischen auf dem Gehsteig saß.
Sie hob die Tasse und trank langsam. Ihr verschwamm die Sicht, Vordergrund und Hintergrund verwischten wie Pinselstriche auf einem bekleckerten Aquarell. Zum ersten Mal seit Wochen hatte ihr Atem ein paar Gänge heruntergeschaltet, und ihr Puls ging beinahe wieder völlig regelmäßig. Sie kam herunter, fühlte sich lockerer, beinahe wie sie selbst – bis auf die Reue. Zanni hatte ihre Witterung aufgenommen und wollte ihr in die Augen blicken. Sie wollte sich über alles, was in ihr vorging, im Klaren sein, ehe sie sich von diesem Leben trennte.
Dewey, ihr blöder süßer Bruder, lag irgendwo allein und war tot … Das würde sie eine Weile verfolgen, und sie würde dem Gedanken davonlaufen.
Und Geiger, dümmer als er je gedacht hätte, konnte anscheinend nicht aufhören, andere Leute zu retten – erst den Jungen, dann Matheson und Harry …
Aber wieso sie?
Die Frage machte sie wütend, über die Antwort nachzugrübeln noch wütender. Sie wollte die Frage nicht in ihrem Kopf haben. Er hatte sie dort eingepflanzt – unabsichtlich –, und sie war deshalb wütend auf ihn. Die Frage war eine Last, die mitzunehmen nicht eingeplant war.
Sie nahm noch einen Schluck Espresso. Er wurde schon kalt. Sie legte einen Zehneuroschein unter die Tasse, stand auf und überquerte die Straße zu ihrem Wagen.
»Merci, Madame!«
Sie drehte sich um. Der Kellner winkte ihr lächelnd mit dem Geld hinterher.
»Gern geschehen«, sagte sie, stieg in den Wagen und ließ den Motor an. Sie sah auf die Uhr im Armaturenbrett – sie hatte noch viel Zeit. Als sie an die Tage ohne Namen dachte, die sich vor ihr ausbreiteten, hielt sie kurz den Atem an. Sie lehnte sich zurück, blickte in den Außenspiegel, parkte aus und fuhr los. Als sie das Schild in Richtung Marseille sah, wendete sie.
Geiger blickte zur Hintertür. Sie mochte wirklich unverschlossen sein, wie Dalton behauptete, und
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