Der Experte: Thriller (German Edition)
hätte. Die Beobachtung weckte seine Neugier.
»Sind die Hände schwerer?«, fragte er.
»Ein wenig. Aber man gewöhnt sich daran. Alles Leichtere käme mir heute merkwürdig vor.«
»Was soll das heißen, Dalton? Dass man bei Opferung nur gewinnen kann?«
Dalton stellte die Flasche ab und nahm das Skalpell. »Lassen Sie mich zuvor eine andere Frage stellen: Wieso sind Sie hergekommen?«
»Harry und Matheson sind an meiner Stelle hier. Sie gehören nicht hierher. Ich gehöre hierher.«
Dalton nickte. »Ja, Sie gehören hierher – in mehr als einer Hinsicht.«
34
Dalton nahm ein Handtuch vom Servierwagen, zog den Klappstuhl heran und setzte sich vor Geiger. Er atmete tief ein. Der Laut war ein Startsignal – er markierte den Beginn von etwas Ersehntem, auf das er lange hingearbeitet hatte. Er hob das Skalpell.
»Horatio Kern – achtzehnhundertsiebenundsechzig«, sagte er. »Links … oder rechts?«
Geiger benötigte keine weitere Erklärung. Er war bereits bei der Vorbereitung und beschwor seine Werkzeuge – die stets frische Erinnerung an eine Klinge, die in ihn einschnitt, und eine letzte Auswahl an der Jukebox in seinem Kopf, was er hören, schmecken, sehen und gegen den Schmerz führen würde. Mahler … Dylan … Hendrix … Bach …
»Links oder rechts, Geiger?«
Geiger blickte in die kalten Augen des totenschädelhaften Gesichts. »Das spielt keine Rolle.«
»Wie Sie wünschen. Dann fangen wir links an.«
Dalton senkte den Kopf und setzte das Skalpell am Gelenk des Zeigefingers an, knapp über dem Knöchel, wo die Gliedmaße mit der Handfläche verbunden war.
»Das Metakarpophalangealgelenk. Das ist vielleicht ein Wort, nicht wahr?« Dalton blickte zu Geiger hoch. »Sie haben meine Metakarpophalangealgelenke so gründlich zerschmettert, dass einige geradezu pulverisiert waren. Die Ärzte sagten, so etwas hätten sie noch nicht gesehen.« Er blickte wieder auf die Klinge. »Bewegen Sie sich jetzt nicht.«
Geiger schaltete sein Licht aus. Er war im Dunkeln, wo es keinen Unterschied machte, ob er die Augen offen hatte oder geschlossen hielt, und Wachheit und Schlafen sich bei den Händen nahmen. Er war dort, wo es immer einfacher gewesen war, die Farben der Musik zu sehen …
Er beobachtete, wie der Griff der mechanischen Finger sich verstärkte – und mit der Sorgfalt eines Chirurgen zog Dalton das Skalpell sehr sanft über das Gelenk. Er schnitt kaum ins Fleisch und hinterließ eine fadendünne, zentimeterlange Linie aus Blut.
»So«, sagte Dalton und griff hinüber zu dem Gurt an Geigers rechtem Handgelenk. Er löste die Schnalle und lehnte sich zurück.
Sie blickten einander an wie Schachspieler nach einer bizarren Eröffnung.
»Wenn die Klinge derart scharf geschliffen ist«, sagte Dalton, »spürt man kaum etwas, oder?«
Geiger rührte sich nicht. Seine Gedanken rasten in eine andere Richtung. Er versuchte das Labyrinth von Daltons Wahnsinn innerhalb seines Kopfes nachzustellen, damit er den Weg zum Kern fand und begriff, was vorging.
Dalton faltete die Hände im Schoß. »Sie fragten doch, was es bedeutet, dass bei der Opferung beide Seiten gewinnen? Nun, ich habe Ihnen gesagt, dass ich in Ihrer Schuld stehe, und daher biete ich Ihnen ein Geschenk. Eine seltene Gelegenheit. Die Chance, ein Opfer darzubringen – einen Akt purer Selbstlosigkeit, der Sie öffnen wird … und Sie reinigen … und den Inquisitor bannen.« Mit einem mechanischen Finger deutete er auf Geiger. »Das wollen Sie. Das weiß ich. Ein für alle Mal frei von ihm zu sein. Und wie Sie über die Wahrheit sagten: Am Ende liegt die Wahl bei dir, nicht bei mir.«
Dalton erhob sich – und hielt Geiger das Skalpell hin.
»Auf diesem Weg kommen Matheson und Boddicker in Freiheit.«
Geiger spähte um eine Ecke in Daltons Labyrinth des Irrsinns – und nun begriff er. Das Grinsen, das sich in Daltons Gesicht ausbreitete, war so scharf und grausam wie die Klinge.
»Wie wir in Frankreich sagen: touché. «
Geiger blickte auf das Angebotene. Die Punktstrahler ließen den blasssilbernen Stahl beinahe weiß erscheinen wie ein Stück Hochglanzpapier. Er streckte die freie Hand aus und nahm das Skalpell. Der Griff fühlte sich kühl und angenehm glatt an.
Dalton grinste wie der stolze Eigentümer eines Oldtimer-Sportwagens. »Perfekte Balance, nicht wahr?«
Geiger nickte. »Perfekt.«
Dalton ging zum Tisch. »Und mein Opfer?« Er goss sich einen weiteren Becher Wasser ein und trank davon. »Ich gebe die
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