Der Experte: Thriller (German Edition)
Frequenz, normalerweise den Kammerton A. Dann stimmt er nach Gehör jeden andere Ton in Relation zu diesem ersten. Wenn die Obertöne nicht perfekt zusammenpassen, hört das ein exzellenter Klavierstimmer – er spürt die feinsten Schwankungen in der Luft. Beim IR, Charles, ist Wahrheit der Kammerton A, und ich habe das absolute Gehör. Ich erkenne eine Lüge, sobald ich sie höre.« Er drehte den Kopf nach rechts. Knack. »Wie lauten die Namen und Nummern der Konten?«
»Die Konten auf den Kaimaninseln laufen unter dem Namen Earl Kent, K – E – N – T; die auf den Kanalinseln unter Byron Keats. K – E – A – T – S. Die Kontonummern weiß ich nicht auswendig, aber sie sind nicht erforderlich. Gehen Sie auf die Websites der Banken, geben Sie den Namen des Kontoinhabers ein und das Passwort – Richard der Dritte, ein Wort, keine Leerzeichen –, und Sie sind drin.«
Geiger trat vor, bis er mit den Knien beinahe die Knie des Mannes berührte. Seine grauen Augen waren ruhig. Die ganze Welt war still. Dann hob er seitlich die rechte Hand und streckte sie nach dem Mann aus. Angstvoll drückte sich der Jones gegen die Sitzlehne.
»Ganz langsam … ich habe die Wahrheit gesagt.«
Geigers Hand ruhte auf dem Hals des Mannes. »Ich weiß«, sagte er und löste den Gurt. Der Mann drehte den Kopf im Nacken – und Geiger ging auf die Tür des Beobachtungsraums zu.
»Das war’s?«, fragte der Jones. »Keine weiteren Fragen? Wir sind fertig?«
»Ich bin keine Vertrauensperson, Charles – oder ein Priester.« Geiger griff nach dem Türknauf.
»Vielleicht doch. Vielleicht sind Sie mein Beichtvater. Haben Sie es je so betrachtet?«
Geiger blieb stehen. Er hatte noch nie nach einem Abruf mit einem Jones gesprochen, doch jetzt wandte er sich um. »Gibt es noch etwas, das du mir zu sagen hast, Charles?«
Der Gesichtsausdruck des Mannes wurde weich. »Ich habe Ihnen hundert Dinge zu sagen. Tausend. Und – ich habe eine letzte Frage.«
Geiger spürte den Zug der gestellten Bitte; Verzweiflung zupfte ihm am Ärmel. Er kehrte zu dem Jones zurück.
»Also gut. Stell mir eine letzte Frage.«
Die Augen des Jones nahmen plötzlich einen matten Schimmer der Leblosigkeit an – die Augen eines toten Mannes, weit aufgerissen, ohne die Kraft, sie je wieder zu schließen.
»Sagen Sie mir eins«, forderte der Mann ihn auf. »Erinnern Sie sich an die Frau? «
Geiger erwachte. Die Muskeln in seinem Nacken begannen sich zu verkrampfen, und Lichtpunkte umschwebten ihn. Die Atmosphäre, die sich nach dem Traum und vor der Migräne einstellte, schaute pünktlich vorbei. Er setzte sich auf und erhob sich von der Matratze. Der Betonboden war kalt, die Versieglung glatt wie frisches Eis, und während er nackt zum Schreibtisch ging, passte sich der ganze Planet seiner Schlagseite an. Er nahm Platz. Das Leder des Sessels war kühl. Auf dem Desktop klickte er ein Icon an, das ein Mikrofon darstellte. Er wusste nicht, wie weit er kam, ehe der Sturm hereinbrach – die heißen Tentakel schlängelten sich schon seine Schädeldecke herunter.
»Traum siebzehn«, sagte er.
Seine immer wiederkehrenden Träume hatten sich nach dem 4. Juli fortgesetzt, doch ihr Inhalt war verändert – keine Reisen eines Kindes zu unbekannten Zielen mehr, an denen sein Körper buchstäblich zerfiel. Jetzt waren es realitätsnahe Wiederholungen vergangener IR-Sitzungen – bis irgendein dämonischer Fahrer das Lenkrad übernahm und sie auf einem schattenhaften Weg in ein anderes Reich brachte, mit stets dem gleichen Ausgang, stets der gleichen Frage. Es war, als habe die stumpfe, kalte Kraft des Flusses in seinem Unterbewusstsein einen Schalter auf Aus und einen anderen auf Ein gestellt.
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Da er nun auf Dr. Corley verzichten musste, hatte Geiger begonnen, die neuen Träume wörtlich aufzuzeichnen, um die Präsenz und die Führung des Psychiaters zu simulieren – als liege er auf der Ledercouch, Corley hinter sich, die Beine übereinandergeschlagen, Stift und Papier in der Hand, leise Fragen stellend, einfache Schritte auf einem Weg.
War dieser Traum wie die anderen?
»Ja … wieder eine IR-Sitzung – vollkommen realistisch, bis sie umschlägt.«
Sie benutzen dieses Wort – umschlagen – oft, wenn Sie Träume beschreiben.
»Es gibt immer einen Punkt, an dem ich spüre, wie die Textur sich zu ändern beginnt.«
Nehmen Sie das physisch wahr?
»Wie einen Ruck, als würde der Gang
Weitere Kostenlose Bücher