Der Experte: Thriller (German Edition)
elegante beigefarbene Slacks, der andere eine Kufiya zu einem teuren Anzug – die klassisch-moderne Mischung aus nahöstlichem und westlichem Stil. Ein Rauchkringel von seiner Zigarette stand wie gefroren in der Luft.
»Der Kerl in Hemdsärmeln ist der frühere stellvertretende US-Außenminister, dem jetzt ein großer Brocken von Argent Industries International gehört.«
Harry nickte. »Ist doch schön, König zu sein, was?«
»Der andere Kerl ist die Nummer zwei im afghanischen Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung. Das nenne ich einen Widerspruch in sich. Harry, es gibt doch Programme, die feststellen können, ob ein Foto echt oder frisiert ist, oder?«
Harry hielt die Nase zwei Zoll vor den Schirm des Laptops. »Ja … Aber heutzutage gibt es so gute Fälschungen, dass man eine Profisoftware braucht, wie die Geheimdienste sie benutzen.«
»Hast du so etwas?«
»Ja, aber nicht hier. Sie ist in meinem Apartment in den Heights.«
»Scheiße.« Ein tiefer Atemzug war zu hören, der signalisierte, dass nun etwas Schwieriges angesprochen wurde. »Du musst sie holen, Harry.«
Harry schüttelte den Kopf, obwohl ihn niemand sah. »Du weißt, dass ich das nicht machen kann.«
»Ich weiß, dass du es bisher nicht gemacht hast , Harry – aber du könntest.«
»Komm schon, Mann. Wir haben abgemacht, dass ich dir bei der technischen Seite helfe. Ich erinnere mich nicht, eingewilligt zu haben, dass ich mich dafür umbringen lasse.«
»Du bist paranoid, Harry.«
»Ich atme aber auch noch.«
Fünf Sekunden lang herrschte Schweigen.
»Du hast recht, Harry. Es ist meine Arbeit, nicht deine. Also, wir machen Folgendes: Wir treffen uns morgen. Ich komme zu dir, und du gibst mir die Schlüssel zu deinem Apartment in Brooklyn Heights. Ich gehe hin – allein.«
Ein finsterer Ausdruck legte sich auf Harrys Gesicht. Er rülpste. Es brannte, als wäre tief in seiner Brust ein Scheit aufgeglüht. Er atmete matt aus. Nach Geigers Tod und dem Ende ihres schrecklichen, lukrativen Geschäfts war sein Gewissen langsam wieder aus dem Versteck gekommen. Er freute sich, es wiederzuhaben, aber nicht in diesem Moment – denn er wusste, dass am Ende er es sein würde, der die CD mit dem Programm holte. Er würde schließlich doch noch nach Hause gehen.
»Du bist ein manipulativer Drecksack, weißt du das?«
»Harry, ich bin nicht in diesem Geschäft, um mir Freunde zu machen. Im Gegenteil. Wenn ich mir keine Feinde mache, dann erfülle ich meinen Job nicht – stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte Harry.
Zwischen Brooklyn Heights und Chinatown schienen Lichtjahre zu liegen. Die Remsen Street war schmal und hielt um drei Uhr morgens den Märznebel vom East River, der die leisen, vereinzelt aus den Fenstern der eleganten Häuser dringenden Geräusche dämpfte. Die Lichtfächer der Straßenlaternen ließen die Gehwege kreidig und die Schatten schwärzer wirken. Während Harry die Straße entlanglief, zuckten seine Augen ständig von links nach rechts und wieder nach links, und in seinem Herzen tobte ein Schwergewichtskampf mit lauter Geraden der Angst und Haken übler Vorahnung. Er empfand leichten Fatalismus. Er war beinahe zu Hause.
Wenn es tatsächlich irgendein »Sie« gab, das hinter ihm her war, so handelte es sich um die gleichen Leute, die Hall und Co. angeheuert hatten, um die Foltervideos wiederzubeschaffen – und dann würden sie seinen Tod wollen. Eine unerledigte Aufgabe weniger. Und wenn sie nun hier waren, wussten sie, dass er gekommen war. Sie würden abwarten, bis er die Straße verlassen hatte und im Haus war, und dann saubere Arbeit leisten.
Andererseits war er sich seines Hangs zum Verfolgungswahn bewusst, und es lag durchaus im Rahmen des Möglichen, dass das Leben für ihn eine Zukunft bereithielt, die sich nicht sonderlich von der Gegenwart unterschied. Dennoch, er behielt die Hände in den Taschen seines Regenmantels, damit ihm nicht der Louisville Slugger herausrutschte, den er darin versteckte. Harry hatte drei falsche Vorderzähne und war mit dreißig Stichen an der Kopfhaut genäht worden – Souvenirs eines Raubüberfalls im Central Park, bei dem vor zwölf Jahren ein Fremder namens Geiger zu seinem Retter geworden war –, und er würde nie wieder kampflos zu Boden gehen.
Der Anblick seines dunklen Panoramafensters im ersten Stock veranlasste ihn, langsamer zu gehen. Er sah Lily dort stehen, denn es war ihr Lieblingsplatz gewesen, wenn sie das Wochenende bei ihm verbrachte. Die Nase ans
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