Der Experte: Thriller (German Edition)

sollte.
    Als er aus der Seitenstraße auf den Gehsteig joggte, sah er einen Mann in schlabberiger Jeans und einer Jacke von North Face, der vor der Bodega auf und ab schritt. Geiger verlangsamte sein Tempo und begann, auf der Stelle zu laufen, während er beobachtete, wie der unruhige Mann seinen eigenen Schatten verfolgte und seine Botschaft so schnell hinausschrie, wie seine Zunge es ihm gestattete.
    »Ich bin der Vertreter des allmächtigen Gottes, unseres Herrn, whoa! , aber ich nehme keine zehn Prozent! Whoa! « Die unterstreichenden Whoas lagen irgendwo zwischen einem Otis-Redding-Stöhnen und einem durch ein Tourette-Synodrom hervorgerufenes Bellen. »Ich werde später voll entlohnt – wenn ich fertig bin! Whoa! « Ohne Unterlass schüttelte er den Kopf hin und her wie ein defektes Aufziehspielzeug, dessen Mechanismus an einer Stelle stockt.
    Geiger hörte ihm nicht zu. Er sah ihn auch nicht an. Er betrachtete die Fensterscheibe der Bodega hinter dem Mann, in der sich der Waschsalon auf der anderen Straßenseite spiegelte – und die Gestalt, die dort am Fenster stand. Als Geiger die Gasse entlanggekommen war, hatte er die Gestalt im langen Mantel bemerkt; sie hatte gerade Kaffee aus einer Thermosflasche getrunken und sie in dem Moment gesenkt, in dem Geiger ins Licht trat. Die Bewegung war alltäglich gewesen; aber der Zeitpunkt, zu dem sie erfolgte, fiel auf – ein bedeutungsloser Zufall vielleicht, oder aber ein Signal an jemanden auf der Straße.
    Gottes Sendbote drohte der Welt in ihrer unentschuldbaren Ignoranz mit einem knochigen Finger. »Dem Herrn ist es gleich, ob du ein Drecksack bist oder ein Heiliger, whoa! , ein reicher Mann oder ein Junkie! Ich bin hier, um dir zu sagen: Du gehörst ihm! Dein erbärmlicher Arsch ist sein Eigentum …«
    In winzigen Schritten trippelte Geiger einen halben Meter nach links, wo der Einfallswinkel das Spiegelbild in der Scheibe größer erscheinen ließ. Die Gestalt am Fenster regte sich nicht.
    »… und er wird dich zu Hause aufsuchen, wann es ihm in den Kram passt, gottverdammt noch mal! Whoa! Einzeln – oder in Waggonladungen – oder eine Million auf einmal.« Er beäugte Geiger. »Hörst du mich, Bruder?« Der Prediger näherte sich Geiger so weit, dass dieser den Whiskey im Atem des Mannes roch.
    »Hörst du mich, Bruder?«
    Geiger nahm die Ohrstöpsel heraus. Sein Blick blieb auf das Spiegelbild gerichtet. »Ja. Ich höre Sie.«
    »Nein, Bruder – nicht so. Ich weiß, dass du mich hören kannst. – Aber hörst du mich auch?«
    Geiger sah dem Mann in die glänzenden dunklen Augen. »Zurück. Sie sind zu nahe.«
    Der Mann lächelte. »Du kannst dem Herrn nie zu nahe sein, Bruder.«
    Geigers Blick wanderte wieder zu der Fensterscheibe. Der Mann war verschwunden – und Geiger begann, in einem langsamen Trab weiterzulaufen. Die Stimme des Predigers folgte ihm.
    »Vergiss das nie, Bruder! Du kannst dem Herrn gar nicht zu nahe sein! Whoa! «
    Geiger musterte den Häuserblock mit beiläufigen Blicken. Trotz der späten, kühlen Stunde belebten eine ganze Menge Niemalsmüder, Betrunkener und Spätschichtler die Avenue X, und hoffnungsvolle Lichter brannten in der Pizzeria, dem Hunan-Restaurant, dem Videoverleih und dem Biocafé.
    Sein konstantes Gleiten die Straße hinunter bewirkte für ihn, dass sich alles um ihn herum fast bis zum Stillstand verlangsamte, so als renne er durch eine Fotografie. Er würde immer durch seine Abgetrenntheit definiert sein. Er war ein Seemann, der trügerisches Wasser bereiste, aber ohne das Verlangen oder die Notwendigkeit, Land zu finden. Seine Einsamkeit war sein Zuhause. Dennoch: Seine Sensoren meldeten ihm unmissverständlich: Jemand hatte ihn gefunden und war nahe.
    An der Ampel bog er nach links und nutzte den Moment, um die Straße hinunterzublicken. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um die Dienststelle, die Hall beauftragt hatte. Man hatte dort entdeckt, dass er noch lebte, und beschlossen, etwas dagegen zu tun. Zu den Prinzipien solcher Leute gehörte es, »reinen Tisch« zu machen, denn ein Einsatz erhielt erst dann den Stempel »Erledigt«, wenn es keinen Grund mehr gab, jemals wieder über eines seiner Elemente nachzudenken. Sie hassten Unerledigtes. Dass Geiger aufgrund seiner eigenen Entscheidung keine Gefahr mehr für sie bedeutete, war irrelevant.
    Der Gang seiner Gedanken drehte sich klickend um ein paar Grad wie die Trommel eines Revolvers und zielte in eine andere Richtung. Geiger entfernte sich