Der Experte: Thriller (German Edition)
Schriftsteller, der eine Geschichte schreibt, die Charaktere ausarbeitet, ihre Instinkte und Entscheidungen, und Schritt für Schritt eine detaillierte Handlung entwirft – aber dem Drang widersteht, sich das Ende der Erzählung auszumalen. Als Christine von ihm wissen wollte, was er unternehmen werde, hatte gerade die Schlichtheit ihrer Frage ihn begreifen lassen, wieso er nie darüber nachgedacht hatte, wie alles enden könnte – wieso er sich die möglichen Lösungen nie vorgestellt und sie niemals durchgespielt hatte.
Weil er es schon wusste.
Geiger schlug die Augen auf. Er drehte den Kopf nach rechts. Die Wirbel waren widerspenstig – doch er erreichte, dass sie knackten.
»Könnten Sie etwas Musik spielen?«, fragte er.
»Klar«, antwortete der Taxifahrer. »Was für Musik?«
»Das ist egal.«
Carmines Leute hatten gut gearbeitet. Das Haus an der Rue Questel lag drei Blocks von der Seine entfernt in einem kleinen Gewerbegebiet aus Beton, Kieswegen und Stromleitungen. Es stand abseits von zwei Nachbarhäusern – einstöckig, fünfzehn Meter im Quadrat, die blinden, scheibenlosen Schaufenster mit Sperrholz vernagelt. Am verblassten Schild mit der Aufschrift Chevier Carreaux Importés fehlten vier Buchstaben. Das Gebäude stand seit einiger Zeit leer – ein trübsinniges Denkmal des Scheiterns.
Der Taxifahrer hielt davor und beäugte den traurigen Zustand. » Hier? Sind Sie sicher?«
»Ja.« Geiger beugte sich vor und hielt ihm einen Hunderteuroschein hin. Dem Fahrer quollen die Augen aus dem Kopf. »Hier sind hundert sofort. Ich bin ungefähr eine Stunde drin. Wenn Sie auf mich warten, gebe ich Ihnen noch einmal hundert. Einverstanden?«
» Zweihundert Euro?« Das Grinsen des Fahrers strahlte auf wie die Sonne. »Einverstanden.« Er nahm den Geldschein. »Ich warte hier.«
»Gut«, sagte Geiger und nahm seine Tasche.
»Mister … Darf ich fragen, wieso Sie zu diesem … äh, wie sagt man bei Ihnen … dieser Schutthalde wollen?«
Geiger öffnete die Tür. »Ich führe Renovierungsarbeiten durch.« Er stieg aus und ging zum Kofferraum.
Drinnen tastete er nach dem Lichtschalter, fand ihn, schloss die Tür und stand in der Dunkelheit. Er spürte den Raum, roch ihn, spielte die Rolle des Jones. Schimmelgeruch herrschte vor, und er fühlte förmlich, wie sich der Staub aus allen Richtungen auf ihn stürzte. Er schaltete das Licht ein.
Das Innere bestand ganz aus narbigem Beton – die Wände, der Boden und die Decke mit ihren beiden Leuchtstoffröhren. An einer Wand stand ein halbes Dutzend durchgesackter Regale, an einer anderen ein großer, zylindrischer Heißwassertank auf vier dünnen Holzstelzen. Alle fünf oder sechs Sekunden leckte ein Tropfen heraus und fiel in einen gefüllten Eimer auf dem Boden darunter, und die Stille verstärkte jedes Platsch. Der Raum erschien wie ein Verlies oder eine Gruft. Und wenn die Ereignisse einer bestimmten Richtung folgten, würde er zu dem einen Ort auf Erden werden, von dem Geiger beschlossen hatte, ihn nie wieder aufzusuchen: einem Sitzungsraum.
Doch in Wahrheit war die Natur des physischen Raumes unerheblich. Was auch immer er hier errichtete, was den Raum letzten Endes definierte, war die Tat, die er hier ausführen würde. Dass er sich so gut wie sicher war, wie seine entsetzliche Entscheidung ausfallen würde, zog die Schraubstöcke an seinem Nacken noch enger an.
Geiger stellte die Sporttasche ab. So schnörkellos wie diesmal hatte er schon lange nicht mehr gearbeitet. Alles auf der Liste war da. Auf einem rechteckigen Klapptisch standen zwei kleine Bose-Lautsprecher, drei Literflaschen mit Wasser und eine Packung großer Plastikbecher, ein sechszölliges Tantō-Messer von Smith & Wesson und zwei Dutzend Rollen silbriges Klebeband. Außerdem hatte man ihm zwei Lampen mit Schwanenhals, zwei Heizlüfter von der Größe eines Reisekoffers und einen stabilen, ungepolsterten Holzstuhl mit Armstützen und einer bis an die Schultern reichenden Rückenlehne hingestellt. Er hätte eine längere Lehne bevorzugt, aber alles in allem konnte er damit arbeiten. Er musste sich eben damit begnügen.
In seinem Video hatte Dalton gesagt, er stehe in Geigers Schuld, und tatsächlich traf es umgekehrt genauso zu. Geiger hatte ein wenig gebraucht, bis er begriff, wie tiefgreifend Dalton ihn verändert hatte. Wie ironisch, dass Corley so lange versucht hatte, Geigers Vergangenheit zu entdecken und sie ihm zu liefern, es aber Daltons Folter gewesen war, die den
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