Der Experte: Thriller (German Edition)
über jemanden weiß, der einem teuer ist, Geheimnisse kennt, welche die Macht haben, Gefühle zu ändern und lange bestehende Annahmen über den Haufen zu werfen. Christine spürte etwas, das dem Zorn sehr nahekam – und sie begriff nicht, wieso.
»Ich muss gehen.« Geiger wandte sich zur Tür.
»Moment!« Christine griff seinen Arm. Er sah sie an, und etwas in seinen Augen veranlasste sie, ihn sofort wieder loszulassen. »Warten Sie … warten Sie einfach«, sagte sie. »Was werden Sie unternehmen?«
»Sie finden.«
»Was ist mit der Polizei?«
»Von dieser Welt verstehen Sie nichts, Christine. Keine Polizei.«
Sie beobachtete, wie seine Finger auf seinen Oberschenkeln zu steppen begannen – trockene, kontrapunktische Tanzschritte.
»Ich muss gehen«, sagte er.
»Aber … aber wie erfahre ich, was passiert ist? Ich muss es wissen!«
»Mich werden Sie nicht wiedersehen. Wenn Harry überlebt, werden Sie meines Erachtens von ihm hören. Wenn nicht – wissen Sie dennoch, was geschehen ist. Leben Sie wohl, Christine.«
Er öffnete die Tür und ging hinaus. Sie sah ihm nach, wie er das Café durchquerte und auf die Straße trat. Sein Gang war irgendwie merkwürdig. Es war, als hätte er das Gehen neu erfunden, um alle Schädigungen auszugleichen, die er erlitten hatte, bis sie sich nur noch andeutungsweise zeigten. Sie schloss die Bürotür und setzte sich auf die Couch.
Mit einem Mal fragte sie sich, ob er verrückt war. Er sprach über verrückte Dinge, und es kam ihr ansteckend vor. Dieses erste Stottern, wenn die Sinne aufbegehren – ich kann nicht glauben, was da passiert – und einen neuen Versuch verlangen. Der Troll blinzelte ihr zu. Lang, lang ist’s her.
Als Geiger sich auf die Rückbank des Taxis setzte und dem Fahrer die Adresse gab, neigte der junge Mann den kahlrasierten Kopf zur Seite und zog eine Braue hoch.
»Rue Questel? « Er kratzte sich den dürftigen Ziegenbart. »Hmmm … Sind Sie sicher? Waren Sie schon mal dort?«
»Nein«, sagte Geiger und zeigte ihm den Anhänger des Schlüssels, den Carmine für ihn hatte hinterlegen lassen.
Der Fahrer schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht – aber meinetwegen.« Er grinste und wies auf den Bildschirm des Navis am Armaturenbrett. »Wir kommen schon hin. Rue Questel, Nummer 315.«
Er fuhr los und bog nach Osten auf die Rue Claude Bernard. Geiger lehnte sich zurück und ließ den Kopf auf der Rückenlehne ruhen. Sein Blick schweifte von einer Seite zur anderen und beobachtete die Gebäude, die vorbeizogen – hier waren sie höher und massiger als in der Umgebung seines Hotels, acht Stockwerke aus Stein von der Farbe sehr alter Erde und Mörtel, verziert mit eisernen Balkonreihen, die sich ohne Ende ausstreckten wie ein Universum, das Mondrian geschaffen hat. Ihre immer anderen Schmuckmuster, die an ihm vorbeischossen – Speere, Filigranarbeiten, Schnörkel, Lilien –, sprachen seinen Sinn für Design an und boten ihm eine Sichtlinie, der er folgen konnte. Doch schon seit Stunden spürte er, wie der obere Trapezmuskel in seinem Nacken ganz allmählich steifer wurde, und jetzt begann er an der Schädelbasis zu zupfen wie ein unleidliches Kind, das Aufmerksamkeit verlangt.
Es lag an den Menschen. Es waren zu viele. Das Einordnen und Balancieren ihrer Fragen und Blicke und Bedürfnisse und Vorhaben. Wörter, die gedeutet, Mienen, die gelesen werden wollten, und das alles aus dem Moment heraus.
Der Fahrer bog in die Avenue des Gobelins, und der Anblick ihrer Baumreihen – dünne Stämme mit smaragdgrünen Blättern, die wie vom Regen lackiert funkelten – löste eine taktile Empfindung aus, als wäre ihm ein kühler Windstoß ins Gesicht gefahren.
Der Taxifahrer suchte Geigers steinernes Gesicht im Rückspiegel. »Diese Straße gefällt mir immer sehr«, sagte er. »Sie ist schön, nicht wahr?«
Die blitzenden, glänzenden grünen Flecken stürmten auf Geiger ein, umzingelten ihn, wirbelten sein Bewusstsein herum, sodass es kurze Blicke auf ein verlorenes Waldleben erhaschte, schräge Pfeiler aus weichem Licht, die durch die Äste stachen … holzige Aromen von Harz und fruchtbarer Erde … Geräuschfetzen, ein Vogelschrei … eine Hand, die seine Finger fest, aber sanft umfing … »You are the sunshine of my life …«
Geiger hob die Hand, Daumen und Zeigefinger fanden seine Lider und schlossen sie wie ein Priester am Bett eines soeben Dahingeschiedenen.
Er ähnelte einem
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