Der Experte: Thriller (German Edition)
Schatz gehoben hatte – eine Truhe voller vergrabener Erinnerungen, Geigers ureigene Büchse der Pandora. Mit jedem von Daltons Schnitten hatte sich der Deckel ein Stück gehoben, bis eine Schar Gespenster hinausgeflogen war und sich gezeigt hatte …
Das Ritual des Rasiermessers …
Die Jahre, in denen er jede Nacht auf dem Boden des kleinen Wandschranks hatte verbringen müssen, den sein Vater ihm gebaut hatte …
Die letzte Nacht auf dem Berg, als sein Vater unter dem Reifen des Pick-up-Trucks eingeklemmt lag und zu langsam starb, als dass er es ertragen konnte … Seine letzte Bitte, nein, sein Befehl, dass der Junge das Messer benutzen sollte. Wie sein Vater den Zeigefinger hob und sich auf die Brust tippte.
»Hier.«
»Nein, das mache ich nicht!«
»Tu, was ich dir sage, Sohn.«
Die verbotenen Tränen des Jungen begannen zu fallen. »Vater … Bitte!«
»Mehr habe ich nicht aus dir gemacht? Einen weinenden, nutzlosen kleinen Jungen? Dann geh. Geh mir aus den Augen! Dein Gesicht soll nicht das Letzte sein, was ich im Leben sehe.«
Doch eine Geistererscheinung zog es noch immer vor, unsichtbar zu bleiben, und ließ ihn nur ihre Stimme hören …
Geiger blickte auf die Uhr. Er lag im Plan. Er dachte an Dalton, der ihn unbesorgt irgendwo erwartete, sich sicher war, dass Geiger kommen würde, weil er wusste , dass er eintreffen würde. In einer Welt, in der sehr wenige lebten, passte es wunderbar, dass er und Dalton ein gemeinsames Ende finden würden. Sie passten zueinander wie eine Schwalbenschwanzverbindung.
Sie waren füreinander geschaffen.
Victor hatte den Schreibtischstuhl ans Fenster seines Zimmers gestellt und dort stundenlang gesessen. Während er den Hoteleingang auf der anderen Straßenseite beobachtete, hatte er immer wieder auf sein Kreuzworträtsel geblickt. Das Beobachten war nie ein Teil seiner Arbeit gewesen, die er besonders mochte. Es strengte weit mehr an, als ein Außenstehender vielleicht vermutete, und dennoch fand er, dass es sich lohnte. Vor allem hatte es ihm beigebracht, dass Menschen einander sehr ähnelten. Man konnte bei einer Zielperson bestimmte Dinge hinsichtlich ihrer Neigungen und Reaktionen von vornherein erkennen und befand sich dabei auf sicherem Grund. Wenn Menschen mit einem bestimmten Ziel im Kopf aus dem Haus kamen, bewegten sie sich schneller – sie blickten sich um, gingen festen Schrittes, waren der Welt gegenüber aufmerksamer, als wenn sie nach Hause zurückkehrten.
In den letzten zwanzig Minuten hatte er Zannis kurzen, forschen Ächzlauten zugehört, die durch die offene Verbindungstür kamen. Das präzise Timing ihrer Wiederholungen hatte ihn beeindruckt. Hätte er nicht gewusst, dass sie es war, hätte er vielleicht angenommen, dass ein dampfbetriebener Roboter in ihrem Raum eine monotone Aufgabe verrichtete. Er stand auf, betrat ihr Zimmer und bezog Posten an einem Fenster. Sie lag in Trainingshose und T-Shirt am Boden und führte Bauchpressen aus, jede identisch mit der vorherigen – die Quintessenz dieser Frau. Er hatte noch keinen Agenten kennengelernt, der besessener davon gewesen wäre, alles unter Kontrolle zu halten. Es war ein bewundernswerter Charakterzug, aber auch ein zweischneidiges Schwert.
»Wie viele machen Sie?«
Sie sprach rasch zwischen den Atemstößen. »Ich zähle nicht.«
»Woher wissen Sie dann, wann Sie genug gemacht haben?«
»Darum geht’s nicht.« Sie legte sich auf den Boden und atmete tief aus. »Ich muss meinem Körper trauen können. Immer.«
Victor lächelte. »Aber sonst niemandem …?« Es war eine Feststellung, die er als Frage betonte.
»Ich arbeite in einer Männerwelt, Victor, und ich habe noch keinen getroffen, der nicht versucht hat, mich zu ficken – auf die eine oder andere Weise.«
»Ich verstehe. Und wie ist es mit mir?«
Zannis rechte Braue hob sich wie eine Sichel. »Sagen wir einfach, ich misstraue Ihnen nicht so sehr wie anderen Männern. Wie wäre es damit?«
»Ah. Ich fühle mich geehrt. Und muss rauchen. Können Sie ein paar Minuten aufpassen?«
Zanni erhob sich, griff eine Faust voll M&Ms aus der Schale auf dem Schreibtisch und ging ans Fenster.
»Nur zu«, sagte sie und begann auf der Stelle zu joggen.
Victor ging zur Tür. »Ich finde es interessant …«
»Was?«
»Dass Sie diesen Unterschied zwischen Männern und Frauen machen.« In Victors angedeutetem Grinsen lag mehr als Weisheit. »Kann man Zanni vertrauen?«
Sie wandte sich ihm zu. Ihre violetten Augen
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