Der Facebook-Killer
unsagbar alten Mann mit weißem Rauschebart vorstellte, und redete auf seine kindliche Art viel und lange mit ihm. Er liebte und er hasste Gott, er liebte und er hasste seinen Vater. Er liebte seine Mutter. Er hatte Marie-Ange geliebt, vom ersten Blick auf dem Schulhof an. Marie-Ange. Ange. Engel. Sein Engel, seine Engel-Frau.
Seinen Freunden gegenüber versuchte er, all dies zu verheimlichen, und er hatte niemanden, mit dem er darüber sprechen konnte. Also schloss er es ganz tief in sich ein. So tief, dass er es später nicht einmal für Gespräche mit Marie-Ange wieder hervorholen konnte. Seine Mutter hatte meist geschwiegen und versucht, ihr Unglück zu verdrängen. Was hätte sie auch tun sollen? Glück, das war für die anderen. Ihm war das Verhalten seines Vaters peinlich gewesen, und obwohl auch er der Leidtragende gewesen war, hatte er sich seiner Mutter und seinen Freunden gegenüber geschämt. Geschämt für den starken, fetten, stiernackigen Raucher und Säufer, der mit seiner Wut nicht umgehen konnte. Der nirgends hinkonnte damit und deshalb Kochlöffel auf dem Rücken seines kleinen Jungen zerschlug.
Als er älter wurde, war die Situation nicht besser geworden. Im Alter von neun Jahren hatte er von seinen Eltern zur Erstkommunion eine Bibel geschenkt bekommen. Er hatte sie noch immer oben in seinem Arbeitszimmer stehen. Er hatte viel darin gelesen in den letzten Tagen und Wochen. Weil er sich damals nicht entsprechend gefreut hatte, hatte er noch eine Ohrfeige seines Vaters hinterher bekommen … heute konnte er sich an den alten Texten freuen.
5
Kollateralschaden
16.2.2011
Préfecture de Police
Rue de la Cité, Paris
„Und er gab sie in die Hand der Gibeoniter. Die hängten sie auf dem Berg vor dem HERRN auf.“
René Bavarois hatte – was man bei dem kleine Mann mit der hellen Stimme so nie vermutet hätte – ein zorngerötetes Gesicht und gestikulierte ebenso wild wie vage in Richtung des Fotos der stark verwesten, gehängten Frauenleiche aus dem Bois de Boulogne, das sich zu den Fotos von Nadine Weill und Michelle Tourrende an der Stellwand im Besprechungsraum gesellt hatte.
„Dieses Arschloch hat einen Gottkomplex und meint, es könne mit uns Katz und Maus spielen. Das muss aufhören, Leute. Ich will den Kerl haben, und zwar pronto.“
Dr. Eude schüttelte den Kopf – offenbar missbilligte sie Bavarois’ Ausdrucksweise. Fronzac duckte sich unwillkürlich – wenn der Chef fluchte, musste eine Sache schon wirklich gewaltig aus dem Ruder gelaufen sein. Selbst Khalil Larbi wirkte leicht erschüttert. Madame Uraine stenographierte mit, und Manet tippte auf seinem allgegenwärtige iPad herum.
Geza saß neben Fronzac und gab sich Mühe, keinerlei Reaktion auf den cholerischen Ausbruch des DSCS-Leiters zu zeigen.
Der fing sich und hängte eine Fotografie des Hauses in der Rue Maurice Ripoche auf. „Kommen wir zunächst zu unserem Opfer von vorgestern Nacht.“ Seine Stimme klang jetzt wieder unangenehm schneidend wie immer, als hätte sie sich nicht eben gerade vor Wut überschlagen.
Geza musterte das Foto. Keine ausgebrannte Ruine, immerhin. Die Feuerwehr hatte den Brand tatsächlich unter Kontrolle bekommen, und das war auch besser so. Die alten Häuser in dieser Straße im 14. Arrondissement standen dicht an dicht. Die Situation hätte ohne Weiteres eskalieren können.
„Madame Wolf.“ René Bavarois sah sie an. „Sie waren vor Ort … können Sie uns sagen, warum?“
Sein durchdringender Blick transportierte unmissverständlich die Botschaft, dass er es gar nicht schätzte, wenn ihn mitten in der Nacht Anrufe von gestressten Einsatzleitern der Feuerwehr aus dem Bett rissen, die sich über eine mögliche Kompetenzüberschreitung seiner Beamten und „deutschen Gäste“ beschweren wollten. Seit über zwanzig Jahren sei er bei der Feuerwehr, hatte der Mann ihn wissen lassen, und selten sei ihm jemand so inkompetent im Weg herumgestanden wie dieser Commissaire, der unbedingt den Helden spielen wollte, und die „Psychotante“.
„Ich hatte sie angerufen“, sprang Fronzac für Geza in die Bresche.
Sie lächelte ihn dankbar an. Bavarois stemmte die Fäuste in die Hüften. Obwohl er alles andere als imposant aussah, wirkte er, als werde es gleich mächtig Ärger geben.
„Das Opfer hatte mich angerufen.“ Fronzac sah zu Boden. Dr. Eudes Kopf ruckte überrascht hoch. Warum hatte ihr das noch niemand gesagt? „Ich hatte auch … den Täter kurz dran. Er hat mir quasi ein
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