Der Facebook-Killer
Marie-Anges, des Opernsängers Jerome Delors. Der Eröffnungswalzer, den er mit Marie-Ange tanzte und für den beide seit Wochen geübt hatte, fand schließlich kurz vor Mitternacht statt, als die diversen anwesenden Kinder befreundeter Paare schon quengelten. Ein klein wenig wurde dann noch getanzt (Delors sprang als DJ ein, weil Marie-Anges Bruder Zachary kaum noch stehen konnte), aber die Stimmung war auf dem Nullpunkt, und gegen halb ein Uhr waren nur noch so wenige Gäste da, dass Marie-Anges Mutter schon mal das Licht anknipste und zusammen mit den beiden jungen Frauen, die sie zum Bedienen der Gäste engagiert hatten, aufzuräumen begann. Die letzten Gäste verstanden, dass das ihr Stichwort war, und zogen sich zügig zurück.
Als er eine Plastikkiste mit halbleeren Schnapsflaschen auf den Parkplatz schleppte, hemdsärmelig, durchgeschwitzt, komplett enttäuscht und erschöpft, sah er in einer dunklen Ecke ein paar Leute zusammenstehen und rauchen: Seine Frau, ihre Eltern und diesen Jerome Delors. Einem Impuls folgend drückte er sich in den Schatten und lauschte.
„… aber es hat ja unbedingt ein Polizist sein müssen, ein Bulle“, sagte Wanda gerade, die Stimme schrill und weingeschwängert, aber deswegen sicher nicht weniger ehrlich. „Du hättest wirklich jeden Mann haben können, einen Akademiker, einen Kollegen von der Schule, meinetwegen Jerome hier … aber es musste ja unbedingt dieser … dieser christliche Fundamentalist sein, dieser … Katholikentaliban!“
Er stand da und zitterte, reglos; der Schweiß lief ihm in Sturzbächen über Stirn und Oberkörper. Sie … sie verabscheuten ihn … alle …
„Ach Wanda, du weißt doch, wie es ist“, hörte sie die gutmütig rumpelnde Stimme von Yves, Marie-Anges Vater. Er war Politikprofessor an der Sorbonne. „Die Eltern lesen Sartre und Camus, kiffen, praktizieren freie Liebe …“
Er bebte jetzt unkontrolliert.
„… haben Che-Poster an der Wand und besetzen Häuser, und die Töchter werden dann gluckende, kleinbürgerliche Spießerinnen und Hausmütterchen und heiraten nach dem ersten Kuss irgendeinen … Bullen. Die einzige Form der Revolte gegen eure Achtundsechziger-Revoluzzer-Eltern, die euch armem Kindern bleibt. Der moralische Rollback.“
Er konnte den Tonfall des Professors nicht deuten. Abscheu? Hass? Oder doch gutmütiger Spott?
„Ach kommt schon.“ Jerome Delors zog heftig an seiner Gauloise, und die Glut leuchtete orange durch die Nacht. „Jetzt seid mal nicht zu hart zu ihr.“ Er hielt kurz inne und fuhr dann mit seiner melodischen, weit tragenden Stimme fort: „Was mich interessiert, Marie-Ange, mein liebes Engelchen: Wie ist der Sex bei euch beiden? Gigantisch? Unvergleichlich? Hart und rattenscharf?“ Auch er war voll, aber er artikulierte mit der Routine des Bühnenkünstlers.
Marie-Ange zögerte einen Tick zu lange.
„Na komm schon, Engelchen, ich will es wissen.“
„Ach Jerome … in einer Ehe ist Sex doch nicht alles. Und ich liebe ihn nun mal“, sagte sie dann halblaut.
„Autsch“, sagte er, „das klingt ja nicht gerade, als ob sich auf dem Höhepunkt die Erde unter euch auftut …“
„Lass mich in Ruhe, Jerome.“
„Du, Marie-Ange … nur, damit die Fronten hier klar sind: Wenn dein Mann impotent ist, ruf mich an, und ich springe ein … Du weißt ja, in welchem Hotel ich nächtige. Meine Zimmernummer ist 102. Ich bin auch bereit, deine Hochzeitsnacht zu retten.“
Die Plastikkiste ging zu Boden.
Die Schnapsflaschen zerbarsten lautstark.
Peinlich berührt spritzten die vier auseinander, Marie-Ange kam herüber und half ihm wortlos, die Scherben aufzusammeln.
Er schnitt sich an einer der Glasscherben, und sein Blut mischte sich auf den Knochensteinen des Parkplatzes mit dem Eau de Vie.
Als er vier Jahre später diesem Jerome Delors mit einem Tranchiermesser die Kehle durchschnitt, diesem dreckigen Hahnrei, nachdem er ihn in flagranti mit Marie-Ange im Bett erwischt hatte, war sehr viel mehr Blut geflossen. Er hatte geröchelt, und Luft war pfeifend aus der durchtrennten Luftröhre entwichen.
Der Opernsänger würde nie wieder über ihn lästern. Nie mehr. Über ihn nicht und auch über sonst keinen.
Dann hob er den Kopf und sah Marie-Ange an, die mit angstweiten Augen zu ihm aufstarrte. Das Messer ließ er sinken.
„Keine Angst, mein Engel, ich werde dir nichts tun … aber von nun an bestimme ich, wie unsere Ehe läuft … Komm her.“
9
Vexin
18.2.2011, 11:02
Préfecture de
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