Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
wenn er das alles nicht hatte, so verfügte er doch über ein Schlafplätzchen unter der Brücke und seine eigene M eth ode, sich täglich Brot, Schinken und Rotwein zu besorgen. Im Übrigen wunderten sich die alten Männer von Paris jeden Tag aufs Neue selber, dass sie überhaupt noch am Leben waren nach all den Kriegen und Krisen und Revolten der vergangenen Jahrzehnte, und deshalb taten sie niemandem etwas zuleide und waren froh, wenn man sie in Ruhe ließ.
So harmlos in Paris die alten Männer waren, so gefährlich waren die Jungen – die Zehntausenden von heimatlosen, mutterlosen und von jedem Trost entblößten Burschen, die nach dem Krieg aus den Schützengräben Europas gekrochen waren, um sich von ihren Phantasmen durch die Stadt treiben zu lassen. Viele hatten auch nach zehn Jahren noch schreckgeweitete Augen, viele stotterten und zitterten noch immer und konnten nachts nicht schlafen, und alle waren sie hungrig und durstig und gierig und kannten kein Morgen und keine Schonung weder für sich selbst noch für sonst irgendwen.
Laura erkannte diese Burschen von weitem, wenn sie ihnen auf der Straße begegnete. Sie lernte, ihre Blicke zu übersehen und ihre geflüsterten Einladungen zu überhören, und sie lernte, nicht auf ihre ad hoc auf dem Trottoir inszenierten Einmann-Dramen hereinzufallen – die Ohnmachtsanfälle, die Liebesschwüre und die vorgetäuschten Brückensprünge –, und kein einziges Mal während der zweiundzwanzig Monate beging sie den Fehler, sich von einem von ihnen in ein Gespräch verwickeln zu lassen.
Nachdem sie die Aufnahmeprüfung am Konservatorium bestanden und die Semestergebühren bezahlt hatte, war sie in ein Mansardenzimmer mit blatternarbigen Tapeten und Fenster zum Hof an der Rue du Bac gezogen, in dem es im Sommer unerträglich heiß und im Winter bitterkalt war. Das Zimmer stand in einer Reihe mit sieben weiteren Zimmern, und gegenüber auf der anderen Seite des Flurs gab es noch mal acht Mansardenzimmer, deren Mietpreis ein wenig höher war, weil die Fenster auf die Rue du Bac hinausgingen. Diese sechzehn Zimmer wurden bewohnt von sechzehn mehr oder weniger jungen Frauen, die alle am Konservatorium immatrikuliert waren und schon leidlich singen konnten, und alle hatten dasselbe Ziel vor Augen: irgendwann im Leben eine große Sängerin zu werden. Manche sahen ein gestochen scharfes Bild von sich selbst, wie sie im Scheinwerferlicht des »Théâtre Capucins«, des »Mathurins«, des »Olympia« oder gar der »Opéra« stehen würden, andere hatten nur dieses große, weite Gefühl in ihrer Brust, dem sie eines Tages Ausdruck zu geben hofften.
In den ersten Tagen hatte Laura sich über die Nachbarschaft zu den fünfzehn Gleichgesinnten gefreut und gehofft, sich mit der einen oder anderen anzufreunden. Aber dann hatte sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass diese künftigen Gesangsgöttinnen, wenn man ihnen im Flur begegnete, bestenfalls flüchtige Grüße hauchten und mit flatternden Wimpern an einem vorbeihuschten, als seien sie furchtbar in Eile und müssten, bevor sie zum Diner ins »Ritz« gingen, draußen auf dem Trottoir ein paar Verehrer abwimmeln, unzählige Autogrammkarten unterschreiben und dann noch rasch bei ihrem Agenten, ihrer Schneiderin und ihrem Vermögensverwalter vorbeischauen.
Die Wahrheit aber war, dass keine von ihnen in der großen Stadt eine Menschenseele kannte außer den Lehrern am Konservatorium und der Marktfrau um die Ecke, bei der sie täglich ein Kilogramm Äpfel kauften. Sie hatten kein Geld fürs Kino und kein Geld fürs Theater und kein Geld für schicke Restaurants, kein Mensch kannte ihren Namen und sie hatten nicht die geringste Aussicht auf eine bezahlte Beschäftigung, wenn sie sich nicht darauf einlassen wollten, sich in der Metro von einem Spießbürger aus Passy ansprechen zu lassen und für zwanzig Francs pro Woche dessen Mätresse zu werden. So blieb ihnen als einziger Zeitvertreib der tägliche Spaziergang im Jardin du Luxembourg oder im Jardin des Plantes, wo sie im Farbenspiel der Platanen den Wechsel der Jahreszeiten beobachteten und sich ausmalten, wie in nicht allzu ferner Zukunft ihre Träume wahr werden würden. Und da die hochmütigen Eisentore der Parks nachts mit großen Schlüsseln verschlossen wurden, verbrachten sie ihre Abende allein in ihren Dachkammern.
Die sechzehn Bewohnerinnen der Rue du Bac bildeten eine klösterliche Gemeinschaft. Sie besuchten tagsüber fleißig ihre Gesangsstunden und übten abends brav
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