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Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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ihre Tonleitern, und sie achteten auf genügend Schlaf und befolgten die Geheimrezepte, die ihnen die Lehrer oder ältere Kommilitoninnen eingeflüstert hatten. Manche schwörten auf Fencheltee und schwarze Schokolade, weil das die Stimmbänder geschmeidig machte, andere tranken rohe Eier und übten Oktavsprünge im Kopfstand. Wieder andere massierten sich den Solarplexus mit Mandelöl oder legten nachts Lavendelblüten unters Kopfkissen.
    Laura gab, weil die Lehrer es befahlen, das Rauchen auf, was ihr nicht sonderlich schwerfiel; die Zigaretten fehlten ihr nur als Zeitvertreib, wenn sie in ihrem Zimmer zwischen zwei Übungseinheiten durch die dünnen Wände den Stimmen ihrer fünfzehn Konkurrentinnen und ihren immer gleichen und ewig an denselben Stellen stotternden Etüden lauschte. Manche hatten dünne, heisere Mädchenstimmen, andere verfügten über runde, wohlerzogene Frauenstimmen. Dann gab es auch vier oder fünf Stimmen – eine zu Lauras Linker, eine quer über den Flur und zwei oder drei an dessen Ende –, die alle anderen übertönten, beiseiteschoben und niederwalzten mit durchdringender, rückhaltloser und schamloser Leidenschaftlichkeit.
    Diese Stimmen waren deshalb so leidenschaftlich, weil ihre Besitzerinnen durch zu viel Leid jede Scham verloren hatten. Man musste ihre Lebensgeschichten nicht kennen, um zu verstehen, dass diese Frauen um ihre Brüder, Väter oder Söhne weinten oder um ihre Kindheit oder um die Unschuld ihrer Schwestern oder um den Untergang ihres Heimatdorfes. Laura lauschte diesen Gesängen, die ein einziges, aus tiefster Seele kommendes Heulen, Schluchzen und Flehen waren, und sie krümmte sich vor Scham für diese Frauen und fragte sich, wie viel Leid eine Singstimme ertragen konnte, bevor sie lächerlich wurde.
    Zu ihrer Enttäuschung aber fand Laura auf der ganzen Länge des Flurs keine Stimme, der sie hätte nacheifern wollen. Am wenigsten interessierten sie die heiseren Mädchenstimmen, denn so eine Stimme hatte sie selbst. Die wohlerzogenen Frauenstimmen verachtete sie, weil diese aus eigenem Verschulden unter ihren Möglichkeiten blieben. Am besten gefielen ihr noch die schamlosen Stimmen der Leidgeprüften, auch wenn sie keinen Ton auf Anhieb trafen und nie eine andere Partitur kennen würden als jene ihrer eigenen Seelenqual.
    Aber Genie – dieses kleine, nicht erlernbare zusätzliche Etwas, dieses Einzige, worauf es wirklich ankam – hatte keine von ihnen.
    Nach einem Monat wusste Laura mit ziemlicher Sicherheit, dass keine Bewohnerin der Rue du Bac, auch sie selber nicht, das Zeug zu etwas Großem hatte. Gewiss waren sie alle zarte und empfindsame Seelen, aber eine große Sängerin – eine wirkliche Künstlerin, die ihr Publikum im innersten Herzen berührte, weil sie ihre ureigene, unerhörte Botschaft hatte, die so wichtig und wahrhaftig war, dass die Menschheit sich auch in hundert Jahren noch an sie erinnern würde –, eine solche Künstlerin würde keine von ihnen werden.
    Der einen oder anderen würde es vielleicht zur Chansonneuse reichen in einem Kabarett, die Hübschesten würden mit ein bisschen Glück, wenn sie artig ihr Strumpfband und das Dekolleté herzeigten, mal ein Liedchen in den Follies Bergères oder im Moulin Rouge trällern dürfen; einige würden sich einen Sommer lang als Straßensängerinnen versuchen, und die Mutigsten würden vielleicht als »Danseuses orientales« auf Tournee gehen in die Nachtcafés von Barcelona, Madrid und Rom; über kurz oder lang aber würde jede von ihnen, wenn sie klug war, in ihr Heimatdorf zurückkehren und sich rechtzeitig heiraten lassen von einem Zahnarzt oder einem Notar oder einem Kneipenwirt, den sie seit der Kindheit kannte und der nicht allzu genau würde wissen wollen, was sie in Paris so getrieben hatte.
    Und dieses große und weite Gefühl, dem Laura eines Tages Ausdruck zu geben hoffte? Ach, auch das war nichts Besonderes, ihre Kommilitoninnen hüteten ausnahmslos alle genau dasselbe Gefühl in der Brust. Laura erkannte das daran, dass auch die anderen Frauen beim Treppensteigen selbstvergessen mit den Fingerspitzen über die speckige Tapete fuhren und sich zuweilen ohne ersichtlichen Anlass auf den obersten Treppenabsatz setzten, um gedankenverloren in unsichtbare Fernen zu schauen, als könnten sie durch die Wände hindurch die herrlichsten Landschaften sehen. In der Folge wurde ihr bewusst, dass die Tapete nur deshalb so speckig war, weil vor ihnen schon zahllose Generationen von Schülerinnen

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