Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
betraten, sprachen sie leise und äußerten ihre Wünsche lächelnd in Bittform, und sie versuchten nie zu feilschen und zahlten immer bar. Und niemals wäre es einem von ihnen eingefallen, sein Plätzchen auf dem Auswandererschiff in letzter Minute mit einem Ladendiebstahl aufs Spiel zu setzen.
Nebst den Emigranten gab es auch Stammkunden aus dem Quartier; ein paar Gymnasiasten, eine Klavierlehrerin, zwei oder drei ältere Damen. Gelegentlich kam es aber vor, dass ein Seemann hereinschneite und vorgab, sich für Musik zu interessieren. Dann wusste Laura, dass ihr eine unangenehme Viertelstunde bevorstand. Die Schiffsbesatzungen bestanden nämlich noch immer aus jenen hinkenden, weißbärtigen und zahnlosen Kerlen, die man nach dem Weltkrieg aus den Altersasylen geholt hatte als Ersatz für die ertrunkenen jungen Matrosen.
Die alten Seeleute machten Laura keine Komplimente und luden sie nicht zu einem Gin Fizz auf die Esplanade ein, wie das die jungen getan hätten, sondern rissen schlüpfrige Witze und ließen sich hundert Notenblätter zeigen, ohne je eines zu kaufen. Sie hetzten Laura von einem Regal zum nächsten und immer wieder das Leiterchen hoch, um ihre Waden und ihr Dekolleté gründlich begutachten zu können und ihren Rock vielleicht doch einmal mit ihren knotigen Fingern zu fassen zu kriegen. Und wenn ihnen das nicht gelang, spuckten sie ihren Kautabaksaft aufs Parkett und machten einen letzten absonderlichen Witz, der vielleicht im vorangegangenen Jahrhundert einmal verständlich gewesen war, bevor sie klackenden Schrittes zum Ausgang hinkten.
Es waren die alten Matrosen und nicht die jungen, vor denen man sich in Acht nehmen musste, das hatte Laura rasch gelernt. Die jungen Matrosen waren harmlos, bei ihnen wusste man immer, was sie im Schilde führten. Die Jungen wollten einfach rudelweise durch die Kneipen ziehen, möglichst viele Stunden lang möglichst viel saufen und zum Abschluss, wenn es sich machen ließ und das Geld noch reichte, irgendwo und irgendwie mit irgendwem noch ein bisschen vögeln.
Gefährlich waren die alten Matrosen, die mit allen Wassern der Weltmeere gewaschen waren und im Laufe eines langen Seemannslebens sämtliche Tücken und Gemeinheiten dieser Welt an eigener Seele erfahren hatten. Die meisten blieben abends an Bord ihrer morschen Holzschiffe und legten sich früh schlafen, um von besseren Zeiten zu träumen, die sie vielleicht nie gekannt hatten. Einige aber rafften sich nach Einbruch der Nacht noch einmal auf, schleppten ihre mürben Knochen über die Gangway hinunter auf den Quai und tauchten ein in die dunklen Gassen des Vieux Port. Das waren die Getriebenen, die Verstörten, die Unversöhnten – die wirklich gefährlichen Kerle.
Diese alten Matrosen waren niemals im Rudel unterwegs, sondern immer allein. Sie konnten eine alte Dame freundlich grüßen und im Vorbeigehen ihrem Hündchen an der Leine noch rasch den Hals aufschlitzen. Die einfachen Vergnügungen der Jugend genügten ihnen nicht mehr. Wenn sie sich ein Straßenmädchen kauften, so nur aus Lust am Gedanken, ihm gleich die Krankheit anzuhängen, die ihnen seit Jahrzehnten das Wasserlassen zur Qual machte. Und wenn sie durch die Hafenkneipen streunten, wollten sie nicht singen und lachen wie die Jungen, sondern lauerten auf einen Vorwand, wieder mal einem ein Ohr abzuschneiden oder ein Auge auszustechen.
Laura wusste das alles. Es würde noch ein paar Jahre dauern, bis neu erbaute Dampfschiffe junge, gesunde Matrosen nach Marseille bringen würden, und bis dahin würde sie sich vor den alten in Acht nehmen. Bei Anbruch der Abenddämmerung holte sie ihren Stuhl und setzte sich ins Licht der Straßenlaterne, wo man sie von weitherum sehen konnte, und wenn sie nachts noch mal ausging, um Zigaretten zu kaufen oder Laudanum für die Mutter zu besorgen, mied sie die engen Gassen und hielt sich an die Gaslaternen der großen Boulevards.
In Paris hingegen waren es die jungen Männer gewesen und nicht die alten, vor denen Laura sich hatte in Acht nehmen müssen. Wenn man in den Straßen von Paris einen alten Mann sah, konnte man davon ausgehen, dass er kein Neuankömmling war, sondern mehrere Jahrzehnte in der Lichterstadt überlebt hatte. Wenn einer sich so lange hatte über Wasser halten können, bedeutete das, dass er sein Plätzchen in der Welt gefunden hatte. Er hatte eine Rente und eine Wohnung und mit ein bisschen Glück eine Frau, die ihm sein Rindsschnitzel briet und bei Bedarf den Rücken kratzte; und
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