Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
mit den Fingerspitzen drübergefahren waren. Und nachdem sie damit ihren Frieden gemacht hatte, entdeckte sie, dass auch Metzgergesellen in stillen Augenblicken diesen gedankenverlorenen Fernblick bekamen und sogar Polizisten selbstvergessen an ihren Pistolenhalftern spielten, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. Dieses Gefühl nämlich, in das sie so lange ihre Zukunftshoffnungen gesetzt hatte, war nichts weiter als das Betriebsgeräusch der Seele, das jeder lebendige Mensch in sich vernimmt, wenn er im Weltengetümmel mal kurz innehält und ein bisschen auf sich achtgibt.
Aber da war noch etwas anderes. Seit einer Weile hörte Laura nachts in der Stille ihrer Kammer, wenn sie im Bett lag und die Augen geschlossen hielt, eine Art Summen, das nicht aus ihrer Brust, sondern von weit außerhalb ihrer selbst, vielleicht aus den Tiefen des Kosmos zu kommen schien; etwas wie das ferne Echo eines Klangs, der ihr in einfachen Harmonien schlicht und verständlich darlegte, woraus die Welt in ihrem Innersten bestand. Wenn Laura diesen Klang hörte, war sie glücklich und fühlte sich eins mit dem Universum. Wenn sie aber am nächsten Morgen in einem abgeschiedenen Winkel des Jardin des Plantes zaghaft die Stimme erhob und jenen Klang wiederzugeben versuchte, kam keine allumfassende Weltformel heraus, sondern immer nur plattes, seelenloses Gekrächze, das sich in nichts von dem Gekrächze ihrer Nachbarinnen unterschied.
Es war für Laura eine entsetzliche Enttäuschung, dass es ihr nicht gelingen wollte, ihrer Empfindung Ausdruck zu verleihen. Wohl war ihre Stimme am Konservatorium reiner und voller geworden, auch traf sie die Töne jetzt mit größerer Sicherheit – aber das war es nicht, worauf es ankam. Laura machte sich keine Illusionen. Sie war zu sehr Künstlerin, um ihre Augen davor zu verschließen, dass sie keine war. So war es für sie keine Überraschung, als der Gesangslehrer ihr am Ende des dritten Semesters mit gut pariserischer Grausamkeit eröffnete, dass ihre Stimme zwar ganz brauchbar, aber nicht weiter ausbaufähig sei, weshalb es wenig Sinn hätte, sie übers vierte Semester hinaus am Konservatorium zu halten.
An jenem Abend weinte sie in ihrer Dachkammer an der Rue du Bac, und in den benachbarten Kammern weinten all jene, die gleichentags den gleichen Bescheid erhalten hatten. Im Unterschied zu ihnen aber tröstete Laura sich nicht über die Niederlage hinweg, indem sie einer feindlichen Umwelt, der Arglist der Zeit oder der Borniertheit ihrer Lehrer die Schuld gab, sondern stellte sich den Tatsachen. Ihre Stimme war nun mal nicht weiter ausbaufähig, das war schade, aber nicht ungerecht. Auch an den Ballettschulen endeten neunundneunzig von hundert Karrieren wegen zu breiter Hintern und zu kurzer Beine, das war genetisch bedingt und niemandes Schuld. Es konnte auch nicht jeder, der es wollte, Zahnarzt werden. Und so mancher Jüngling, der gern ein gefeierter Fußballheld geworden wäre, musste die väterliche Gemüsehandlung übernehmen.
Während der paar Wochen, die ihr am Konservatorium blieben, besuchte Laura tapfer ihre Stunden und absolvierte abends fleißig ihre Übungen. Aufs Zigarettenrauchen aber verzichtete sie nicht länger. Und immerhin hatte sie noch dieses Gefühl in der Brust. Und das Summen aus dem Weltraum. Und eine ganz brauchbare Stimme.
Immerhin.
Fünftes Kapitel
Dann kam die Zeit, da Felix Bloch seine Experimente abschloss, ans Tageslicht zurückkehrte und feststellte, dass er in der kleinen Welt der Atomphysik zu einiger Bekanntheit gelangt war. Erst hatte es sich in Zürich herumgesprochen, dass im Keller der ETH einer ungewöhnliche Dinge betrieb, dann an den anderen Hochschulen des Landes und schließlich an jenen physikalischen Instituten Europas, an denen Atomphysik betrieben wurde. Er war noch weit von der Niederschrift seiner Dissertation entfernt und erst zweiundzwanzig Jahre alt, als er schon zu Kongressen nach Göttingen, Hamburg und Kopenhagen eingeladen wurde, um vor kleinen Gruppen vorwiegend junger Männer über das Verhalten von Elektronen bei unterschiedlichen Temperaturen zu referieren, und danach musste er sich jeweils der Inquisition übellauniger älterer Professoren stellen, denen das Unschärfegerede und Sowohl-als-auch-Getue der jungen Physiker gegen den Strich ging.
Diese Verhöre überstand Felix Bloch stets schadlos, weil er sich nicht auf Spekulationen über große Zusammenhänge einließ, sondern mit beiden Füßen auf dem relativ festen Grund
Weitere Kostenlose Bücher