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Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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anderen nur die Augen oder eine nackte Schulter, aber Emile Gilliéron stattete sie, weil ja auch dem weiblichen Körper seine Logik innewohnt, mit vollkommenen Gestalten aus. Als er mit seiner Arbeit fertig war, strahlten die Fresken in einer lückenlosen Frische, als hätten die minoischen Frauen gestern erst Modell gestanden; manche steckten die Köpfe zusammen, als würden sie den jüngsten minoischen Klatsch untereinander austauschen, andere stießen mit Weinkelchen an, und zwölf saßen erstaunlicherweise auf einer Art Campingstühlen mit schmalen Metallbeinen, und alle hatten langes, schwarzes Haar, und manche ließ eine kokette Locke in die Stirn fallen. Sie hatten riesige Mandelaugen und sinnliche, grellrot geschminkte Münder, manche trugen absatzlose Turnschuhe, kurze Röcke und halsfreie Blusen, als kämen sie vom Tennisspiel, andere waren in knappe Boleros gekleidet und reckten dem Betrachter stolz ihren nackten Busen entgegen, während wieder andere transparente Hemden trugen, bunte Bänder ins Haar geflochten hatten und selbstbewusst das Kinn reckten, als wollten sie sagen: Folgen Sie mir, junger Mann.
    Arthur Evans war wiederum begeistert, und die Fachwelt geriet, nachdem Gilliérons Bilder in die Welt hinausgegangen waren, in Aufruhr. Für das technikmüde Europa war es eine Wohltat, seine kulturellen Wurzeln in einer derart verfeinerten, fröhlichen und lebenslustigen Zivilisation wiederzufinden, der die Strenge des klassischen Griechenlands so fremd war. Zudem erinnerte die minoische Kultur mit ihren blumigen Ornamenten manche Betrachter an den Jugendstil, der in jenen Jahren von München über Paris, Brüssel und London bis nach New York en vogue war.
    Einige waren allerdings auch irritiert, dass die Fresken auf Knossos so modern erschienen und alles Archaische vermissen ließen. »Mais, ce sont des Parisiennes!«, rief der durchreisende Archäologe und Kunsthistoriker Edmond Pottier beim Anblick von Gilliérons Campingstuhl-Schönheiten, und der britische Schriftsteller Evelyn Waugh sagte, er wolle sich ein Urteil über die minoische Kunst nicht anmaßen, da die ausgestellten Fresken höchstens zu einem Zehntel älter als zwanzig Jahre seien; übers Ganze könne man sich jedenfalls des Eindrucks nicht erwehren, dass der Restaurator seine handwerkliche Sorgfaltspflicht aus Begeisterung für Vogue-Titelbilder vernachlässigt habe.

Achtes Kapitel

    Nach einem Fußmarsch von anderthalb Stunden über nächtlich verschneite Wiesen und Felder muss Laura d’Oriano mit ihrem Koffer in Weinfelden eingetroffen sein, wo um 22 Uhr 48 der letzte fahrplanmäßige Personenzug abging. Falls sie diesen erreicht hat, müsste sie um 23 Minuten nach Mitternacht am Hauptbahnhof Zürich angekommen sein und dort, weil der nächste Zug nach Genf erst um 06 Uhr 34 fuhr, die Nacht im Wartesaal zweiter Klasse auf einer Holzbank verbracht haben. Eine neuerliche Begegnung mit Felix Bloch kann in jener Nacht nicht stattgefunden haben, weil er sich Ende März 1934 schon nicht mehr in Zürich befand, sondern auf der anderen Seite der Welt, wo es heller Tag war.
    Felix hatte seine Flucht nach Amerika nicht geplant, sie war über ihn gekommen wie das Erweckungserlebnis, das ihn von der Gussschachtdeckelproduktion zur Atomphysik getrieben hatte. Nach seinem letzten Skiurlaub mit Heisenberg war er zu den Eltern an die Zürcher Seehofstraße zurückgekehrt, um dort kostenfrei den Sommer zu verbringen und abzuwarten, bis im Oktober die monatlichen Zahlungen der Rockefeller-Stiftung einsetzen würden. Er nahm die Gewohnheiten seiner Jugend wieder auf, ging im Zürichsee schwimmen und unternahm Bergtouren in die Glarner Alpen. Samstags ging er in den Letzigrund zum Fußball. Gut möglich, dass er einmal mit dem Rad nach Küsnacht fuhr und sich in Fritz Christens Gießerei auf den neuesten Stand in Sachen Gussschachtdeckelproduktion bringen ließ. Montags besuchte er das Kolloquium des Instituts für theoretische Physik, wo hauptsächlich vom neu entdeckten Neutron die Rede war. Abends las er Fachzeitschriften, in denen ebenfalls viel vom Neutron die Rede war.
    Alle Welt sprach vom Neutron in jenem Sommer 1933, es war die aufregendste physikalische Entdeckung seit langem und die größte Hoffnung für die experimentelle Forschung. Das Neutron hatte nichts Ungefähres und nichts Unscharfes, und vor allem konnte man es gut als Projektil verwenden, weil es sich nicht von positiv oder negativ geladenen Teilen ablenken ließ, sondern immer

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