Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
zugeben, dass die kopflose Gestalt weitaus zu kräftig und schmalhüftig war, um als Mädchen durchzugehen, und dass der blaue Junge, wie er fortan genannt wurde, keineswegs tanzte, sondern in einem Blütenfeld Safran pflückte. Also strich er das tanzende Mädchen in seinem Notizbuch durch und vermerkte die neuen Erkenntnisse, während Emile Gilliéron Gips, Mörtel und Pigmentfarben anrührte, die blaue Figur mit einem menschlichen Antlitz versah und den Hintergrund zu einem lückenlosen Safranfeld vervollständigte.
Dieses Bildnis ging unter dem Namen »Blue Boy« in die Kunstgeschichte ein als anrührendes Beispiel für die Leichtigkeit und Menschenfreundlichkeit minoischer Kunst – und es behielt diesen Platz auch dann noch, als viele Jahre später zusätzliche Puzzleteile offenbarten, dass es sich beim Blue Boy keineswegs um einen Jungen, sondern um einen Safran pflückenden Affen handelte, dessen langen, geringelten Schwanz Gilliéron nicht als solchen erkannt und weitab vom Affen in die Blumenwiese eingefügt hatte.
So ging die Arbeit voran. Am 16. Mai 1900 entdeckten die Arbeiter eine Kammer, deren Wände mit Abbildungen von Stieren und Kampfszenen geschmückt gewesen waren. Arthur Evans schloss daraus, dass er im Herzen des minoischen Labyrinths angelangt war – in der wirklichen Kammer des Minotaurus, in der alle neun Jahre sieben athenische Jünglinge und Jungfrauen ihr trauriges Ende gefunden hatten.
Emile Gilliéron seinerseits verstand, dass es für Arthur Evans eine Herzensangelegenheit sein würde, der Weltöffentlichkeit aussagekräftige und repräsentative Stierkampfszenen präsentieren zu können. Die Schwierigkeit war aber die, dass die Fragmente in Struktur, Einfärbung und Dicke sehr verschieden waren, weil sie als Bestandteile unterschiedlicher Fresken verschiedene Wände geschmückt hatten. Da die meisten von ihnen für sich allein nicht viel mehr als braune Flecken darstellten und kaum mehr aussagten als die Erdknollen auf der Ziegenweide, fügte Emile sie zusammen und schob sie so lange auf dem Tisch umher, bis sie unbesehen ihrer unterschiedlichen Herkunft gemeinsam eine hübsche, durchkomponierte Stierkampfszene ergaben – das heißt, bis sich die Puzzlestücke in die Stierkampfszene einfügten, die Gilliéron sich vorgängig ausgedacht hatte.
Das Ergebnis war ein prächtiger Bulle in gestrecktem Galopp, auf dessen Rücken ein Jüngling den Handstand machte, links und rechts umrahmt von zwei jungen Frauen, von denen eine den Bullen an den Hörnern gepackt hielt, während die andere vor dessen Hinterläufen stand und die Arme ausstreckte, als wolle sie dem Jüngling beim Absteigen helfen. Das widersprach zwar jedem gesunden Menschenverstand, denn noch nie hatte auf Erden ein Mensch auch nur daran denken können, einen ausgewachsenen galoppierenden Bullen an den Hörnern festzuhalten, auch war es ein Ding absoluter Unmöglichkeit, auf dem Rücken eines Rindviehs bei dreißig Kilometern pro Stunde den Handstand zu vollführen; und was schließlich die junge Frau betraf, die vor den Hinterläufen des Paarhufers Aufstellung genommen hatte, so konnte sie dies nicht anders als in suizidaler Absicht getan haben.
Arthur Evans aber war begeistert.
Phantastisch! sagte er zu Gilliéron. Zweifellos ein rituelles Menschenopfer für den Stiergott der Minoer, meinen Sie nicht?
Schon möglich, sagte Gilliéron und wunderte sich einmal mehr, dass alle Archäologen, die er in seinem Leben kennengelernt hatte, bei Abbildungen junger Menschen reflexartig Phantasien von rituellem Abschlachten entwickelten. Es könnte sich aber auch, fügte er vorsichtig hinzu, um einen sportlichen Wettkampf oder irgendeine Spielerei handeln.
Ein rituelles Menschenopfer, beharrte Evans. Der Fall scheint mir klar.
Ich bitte zu bedenken, dass die Faktenlage extrem dünn war, sagte Gilliéron. Ich habe mir viele Freiheiten herausnehmen müssen.
Ich verstehe, sagte Evans. Was zählt, ist das Ergebnis.
Es ist immer ein Risiko, sagte Gilliéron. Man begibt sich aufs Glatteis.
Aber es hat sich gelohnt, rief Evans aus, ein herrlicher Stierkampf! Was hätten wir ohne Ihr Wagnis – die paar braunen Flecken hier?
Also fuhr Emile Gilliéron mit seiner Arbeit in dieser Weise fort.
Unmittelbar nördlich des Thronraums legten die Arbeiter einen Raum frei, dessen Wände mit zahlreichen Abbildungen weiblicher Gestalten geschmückt gewesen waren. Von manchen waren nur die Füße und die Rocksäume erhalten geblieben und von
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