Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
oder Augenfarbe unterscheiden, und alle waren sie Felix Bloch unbekannt, aber fremd waren sie ihm deswegen nicht. Die Leute waren Leute. Kein Grund zur Aufregung.
Am nächsten Morgen ging er zur Grand Central Station, wo schon der Zug bereitstand, der ihn quer über den Kontinent ans entgegengesetzte Ende Amerikas bringen würde. Als er unter der Kuppel der großen, makellos weißen und hell erleuchteten Bahnhofshalle stand, die in ihrer Großartigkeit jedes menschliche Maß, jede Vernunft und jede Zweckdienlichkeit so gänzlich vermissen ließ, hatte er erstmals Heimweh nach dem alten, trüben Europa.
Die Bahnreise dauerte vier Tage und vier Nächte. Felix fuhr durch die Vorstädte Chicagos und über die endlosen Brücken, die in schwindelerregender Höhe den Mississippi und den Missouri River überquerten. Er fuhr durch die Rocky Mountains und folgte dem Colorado River durch orangefarbene, gelb-weiß gestreifte und violette Canyons; durchs Fenster seines Eisenbahnabteils sah er grasende Elche, fliehende Hirsche und kreisende Adler. Der Zug hielt in Salt Lake City, Reno und Virginia City, und er quälte sich über die Sierra Nevada hinunter in die fruchtbaren Täler Kaliforniens, wo die Bauern die Äpfel dreimal jährlich von den Bäumen pflückten und die Goldnuggets offen in den Ackerfurchen zutage lagen. Am Ende des vierten Tages kam im rechten Fenster die Golden Gate Bridge in Sicht, und dann blieb der Zug endlich im recht bescheidenen Bahnhof von San Francisco stehen.
Während jener vier Tage und vier Nächte hatte Felix Bloch viele Stunden aus dem Fenster geschaut, und am Ende der Reise hatte er eine Lektion gelernt: dass er ein Auto brauchen würde in diesem Land. Zwar fand er überhaupt nicht, dass die amerikanische Landschaft wesentlich größer sei als die europäische, denn nach seiner Beobachtung war auch in Amerika ein Berg ein Berg und ein Fluss ein Fluss. Ein Kilometer maß auch hier nicht mehr als tausend Meter, und die Entfernung zwischen New York und San Francisco war objektiv betrachtet deutlich geringer als jene zwischen Lissabon und Moskau. Zudem lebten die amerikanischen Menschen, soweit Felix Bloch das durchs Zugfenster beurteilen konnte, abseits der Metropolen durchwegs in Kleinstädten europäischen Zuschnitts, die ein paar tausend Einwohner, ein paar Kneipen und eine Dorfkirche hatten.
Der Unterschied war nur der, dass diese Kleinstädte nicht in Sichtweite zueinander standen, sondern durch endlose Weiten voneinander getrennt waren, in denen jeweils der ganze Schwarzwald, der halbe Alpenbogen oder die gesamte Toscana Platz gehabt hätten, und dass ein Familienvater, der sonntags nach der Frühmesse frisches Brot fürs Frühstück besorgen wollte, auf dem Weg von der Kirche zur Bäckerei drei Canyons und eine Prärie mit zehntausend grasenden Büffeln durchqueren musste.
Felix Bloch würde in diesem Land ein Auto brauchen, das war ihm am Ende der Reise klar, als er mit seinem Koffer aus dem Bahnhof von San Francisco trat. Also winkte er ein Taxi herbei und ließ sich zum nächsten Gebrauchtwagenhändler fahren, wo er sich in Minutenschnelle für einen nahezu rostfreien 1928er Chevrolet Sportster mit hölzernen Speichenrädern und bordeauxrot lackierter Motorhaube entschied, dessen Motor, dem Geräusch nach zu urteilen, ziemlich rund zu laufen schien. Der Händler musste ihm, da er noch nie an einem Lenkrad gesessen hatte, die Funktionsweise des Fahrzeugs erklären und mit ihm ein paar Runden auf dem Firmengelände drehen, und dann fuhr Felix ruckelnd und holpernd aus der Stadt hinaus, dreißig Meilen südwärts durch den ewigen Frühling dieses gesegneten Landes.
Die Fahrt auf dem brandneu asphaltierten, vierspurigen Bayshore Highway dauerte eine knappe Stunde. Wenn er rechts aus dem Fenster schaute, sah er sanft geschwungene Hügel, die ihn an den Schweizer Jura erinnerten. Im linken Fenster sah er storchenbeinige Vögel, die im grauen Brackwasser der Bucht von San Francisco umherstelzten. Die Straße war staubfrei, eben und hart. Wenn er geradeaus schaute, sah er beidseits des schwarzen Asphaltbands Telegraphenstangen, riesige Reklametafeln und Garagen sowie Benzinstationen und Lunchbuden in den abenteuerlichsten Verkleidungen; manche kamen als indische Tempel, riesige Zitronen, übergroße Hexenknusperhäuschen oder Indianerwigwams daher. Vor und hinter ihm fuhren schimmernde Luxuskarossen, in denen einsame Menschen allein oder zu zweit saßen, gefolgt von Autobussen, die groß
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