Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
Quantenphysik zu verstehen. Also legte er seine Notizen beiseite und improvisierte ein neues Vorlesungsprogramm, bei dem er sich darum bemühte, keinerlei Vorkenntnisse oder Fachbegriffe als bekannt vorauszusetzen. Als erstes würde er seinen Studenten erklären, wieso der Apfel vom Zweig zu Boden fällt, der Mond hingegen oben am Himmel bleibt; dann würde er erörtern, warum der Dampf im Teekessel pfeift und Eisberge zwar schmelzen, aber nicht sinken; und am Ende des Studienjahres würde er, wenn die Zeit noch reichte, darüber sprechen, weshalb der Blitz stets in die höchsten Tannenwipfel einschlägt, das niedere Gewächs hingegen nach Möglichkeit verschont.
Felix Bloch war sich zwar darüber im Klaren gewesen, dass Atomphysik im Westen der USA ein unbeackertes Feld war, auch hatte er gewusst, dass Stanford eine praktisch orientierte Hochschule war, an der man sich für Theorie vor allem im Hinblick auf ihre konkrete Anwendbarkeit interessierte. Aber dass er im Umkreis von zweitausend Meilen beinahe der Einzige war, der sich jemals mit Quantenmechanik befasst hatte – dass es seine Aufgabe sein würde, in dieser Weltgegend das quantenmechanische Evangelium zu verkünden –, erschütterte ihn doch.
Als Physiker fühlte sich Felix Bloch in Stanford wie ein Schiffbrüchiger, und auch in der Freizeit fiel es ihm schwer, an den gesellschaftlichen Ritualen, die auf dem Campus üblich waren, mit der gebotenen Begeisterung teilzunehmen. Wenn er am Freitag Abend zu einem der traditionellen Trinkgelage unter Junggesellen gehen sollte, fühlte er sich unbehaglich, und beim Forellenfischen am nächsten Morgen langweilte er sich. Das Karnickelschießen fand er banal und abstoßend, und zeitlebens sollte es ihm ein Rätsel bleiben, wie Sonntag für Sonntag neunzigtausend Menschen im Baseballstadion in religiösen Taumel verfallen konnten. Es war deshalb ein großes Glück für ihn, dass sich ein paar Jahre zuvor ganz in der Nähe ein zweiter quantenmechanischer Apostel niedergelassen hatte. Robert Oppenheimer, sein Bekannter aus Göttinger Studentenzeiten, hatte an der Universität Berkeley eine Professur übernommen und den Lehrstuhl für theoretische Physik aufgebaut. Da Felix dringend einen Gesprächspartner brauchte, mit dem er seine halbfertige Theorie vom Magnetismus des Neutrons besprechen konnte, fuhr er nach Berkeley – auf dem Bayshore Highway hinauf nach San Francisco, dann mit der Fähre hinüber nach Oakland.
Die Begegnung der zwei so gegensätzlichen Männer hätte gründlich misslingen können. Felix Bloch war ein freundlicher, zurückhaltender junger Mann, der sich hauptsächlich für Physik interessierte und in seiner Freizeit am liebsten Bergwanderungen unternahm; den anderthalb Jahre älteren Robert Oppenheimer hatte er in Göttingen als kapriziösen Dandy aus reichem New Yorker Elternhaus kennengelernt, der pausenlos Chesterfield rauchte und die Rede anderer Leute mit rhythmischem »Ja … ja, ja … ja, ja … ja« begleitete, um ihnen bei der ersten Gelegenheit ins Wort zu fallen und ihre Gedanken zu Ende zu führen, weil er besser als die anderen zu wissen glaubte, was diese sagen wollten.
Die Wahrheit war aber auch, dass Oppenheimer die Gedanken anderer Leute tatsächlich oft besser und rascher verstand als diese selber, und dass er eine ausgeprägte Gabe besaß, neue Ideen in seine eigene Gedankenwelt zu integrieren. Und wahr war ebenfalls, dass Bloch und Oppenheimer gleichermaßen froh waren, in der quantenmechanischen Einsamkeit Kaliforniens einen Gefährten gefunden zu haben. Als Felix seine Theorie über den Magnetismus des Neutrons skizzierte, hörte Oppenheimer ihm begierig zu, fixierte ihn mit seinen hellblauen Augen und machte »Ja … ja, ja … ja … ja«. Und dann unterbrach er ihn und führte die Idee aus dem Stegreif in genau jener Richtung fort, die Felix sich von ihm erhofft hatte.
Fortan hielten die beiden jeden Montag ein gemeinsames quantenmechanisches Doktorandenseminar ab – mal in Stanford, mal in Berkeley –, das sie »The Monday Evening Journal Club« nannten. Meist begann es damit, dass Felix Bloch den Studenten einen neuen quantenphysikalischen Aufsatz aus der »Physical Review« oder dem »New Scientist« vorstellte, bis Oppenheimer ihn unterbrach und den Aufsatz auf seinen tatsächlichen Erkenntnisgehalt hinterfragte. Und dann suchten sie gemeinsam mit den Studenten nach Möglichkeiten, die Forschung auf diesem Gebiet weiterzutreiben mit eigenen Experimenten und
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