Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
theoretischen Arbeiten.
Die Studenten waren begeistert. Ihre jugendlichen Professoren leierten nicht auswendig gelernte akademische Gewissheiten herunter, sondern konzentrierten sich auf ungelöste Probleme und gaben ihnen so das Gefühl, mit der physikalischen Avantgarde über die Grenzen menschlichen Wissens hinauszugehen. Im »Monday Evening Club« stoben die Funken, Bloch und Oppenheimer verteilten ihre Ideen großzügig an alle, die sie aufzunehmen in der Lage waren. Wenn einer ein Forschungsthema für seine Doktorarbeit brauchte, erhielt er jeden Montag eine reiche Auswahl vorgelegt.
Auch für Felix Bloch waren die Diskussionen mit Oppenheimer eine Bereicherung, aber er ahnte schon bald, dass dessen Brillanz gleichzeitig Ursache und Folge einer sonderbaren seelischen Schwäche war. Oppenheimer war neugierig auf alles, er verstand jede neue Idee auf Anhieb und behielt stets alles im Gedächtnis, was er jemals verstanden hatte. Weil für ihn alles einfach war, hatte er eine Vorliebe für die schwierigsten Dinge. Wenn ihm der Sinn nach Lyrik stand, befasste er sich nicht mit Emerson oder Yeats oder Rilke, sondern mit französischer Poesie des Mittelalters. Wenn er für sich den Hinduismus entdeckte, lernte er Sanskrit, um die heiligen Schriften im Original lesen zu können. Und wenn er mit dem Teleskop ins Weltall schaute, hielt er sich nicht mit den Namen der Himmelskörper auf, sondern vergnügte sich mit quantenmechanischen Spekulationen über Kernreaktionen im Innern von Sternen.
Zur theoretischen Physik war er nicht aus Neigung gekommen, sondern weil es ihm als Chemiestudent im Labor an Beharrlichkeit und Sorgfalt gefehlt hatte. Und auf die Quantenmechanik hatte er sich spezialisiert, weil sie die abstrakteste und schwerstverständliche Theorie war, welche die Menschen je ersonnen hatten.
Aber gerade weil er alles so leicht und rasch verstand, worüber andere sich jahrelang den Kopf zerbrechen mussten, war es ihm auch ein Leichtes, bei jeder Wahrheit beliebig viele alternative Wahrheiten zu denken. Weil er in jeder Theorie sofort den schwachen Punkt entdeckte, fand er nie zu ruhigem Glauben an einen Gedanken, sondern blieb stets misstrauisch auch seinen eigenen Ideen gegenüber und fand in keiner Sache zu der zuversichtlichen Beharrlichkeit, die für das Erreichen großer Ziele nötig ist. Und letztlich bereitete ihm wissenschaftliches Denken nicht um der Erkenntnis willen Vergnügen, sondern bloß als Nahrung für die eigene Eitelkeit.
Weil er zu tiefem Empfinden nicht fähig war, benötigte er starke Reize. Seine Wohnung war ausstaffiert mit Navajo-Teppichen aus New Mexico und Statuetten indischer Gottheiten, die Fenster hielt er Sommer und Winter geöffnet. Wenn er für seine Studenten kochte, bereitete er teuflisch scharfes Nasigoreng zu, das diese, weil sie unter gegenseitiger Beobachtung standen, essen zu müssen glaubten. Am Steuer seines Chrysler lieferte er sich Rennen mit nebenherfahrenden Eisenbahnzügen, und wenn er dabei den Wagen zu Schrott fuhr und seine Beifahrerin verletzt wurde, schenkte er ihr zur Wiedergutmachung einen kleinen Cézanne aus der Sammlung seines Vaters.
Die Studenten verehrten ihn. Sie nannten ihn Oppie und ahmten ihn in allem nach. Sie rauchten pausenlos Chesterfield-Zigaretten wie er und trugen wie er breitkrempige Hüte, und sie konnten Tschaikowski nicht ausstehen, weil Oppie Tschaikowski nicht ausstehen konnte. Sie machten »ja … ja, ja … ja«, wenn jemand anderes als Oppenheimer sprach, und sie boten wie ihr Meister mit einem Schwung aus dem Handgelenk ihre Feuerzeuge an, wenn jemand eine Zigarette hervornahm.
Nach dem Seminar fuhr Oppenheimer mit ausgewählten Studenten jeweils nach San Francisco zu »Frank’s«, einem der schicken Fischrestaurants unten am Hafen. Dort zeigte er ihnen, wie man französischen Rotwein dekantierte, Austern öffnete und Kokosnüsse aufschlug, und dazu rezitierte er mit seiner samtenen Stimme Platon auf Altgriechisch und plauderte über Navajo-Teppiche und Hegels Dialektik. Und als die Rechnung kam, nahm er sie immer an sich.
Anfangs ging Felix Bloch mit zu diesen Abendgesellschaften, später dann seltener, weil er ausreichend übers Dekantieren französischen Rotweins unterrichtet zu sein glaubte. Seine Abende verbrachte er fortan allein. Er hatte Heimweh nach Zürich und nach Leipzig, nach Heisenberg und seinen Eltern. Es verging kein Tag, an dem er nicht im Lesesaal der Universitätsbibliothek die »Neue Zürcher Zeitung«
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