Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
größte Niederlage, aber gleichzeitig auch die wichtigste Tugend ist.
Nach dem Erdbeben auf Knossos machte Emile Gilliéron die unangenehme Erfahrung, dass die Fähigkeiten, für die man ihn und seinen Vater lange Zeit hoch gelobt und reich bezahlt hatte, immer weniger gefragt waren. Die kühne Rekonstruktion, die gewagte Ausschmückung bis hin zur freien Imagination – sie galten nichts mehr bei einer neuen Generation von Archäologen, die an den Universitäten von London, Paris und Berlin eine eher naturwissenschaftliche als künstlerische oder altphilologische Ausbildung erhalten hatte. Diese jungen Faktenhuber arbeiteten nüchtern, m eth odisch und empirisch, Schliemannsche Geniestreiche und Evanssche Phantastereien waren ihnen suspekt; auch Gilliérons prähistorischen Pariserinnen mit ihren Campingstühlen und Tennisschuhen standen sie äußerst kritisch gegenüber.
Das nahm Emile Gilliéron schulterzuckend zur Kenntnis; wenn der Kunde es wünschte, war er zu jeder wissenschaftlichen Akkuratesse bereit. Bedauerlich war einzig, dass diese brave, m eth odische Knochenarbeit deutlich schlechter bezahlt wurde, weil zu ihrer Verrichtung keinerlei Genie und nicht mal Talent, sondern nur ein wenig Fleiß und Gewissenhaftigkeit nötig waren.
Als Gilliéron sich aber daranmachte, das Blue-Boy-Fresko nach dem jüngsten Stand der Forschung wiederherzustellen –, nämlich nicht in der Gestalt eines Safran pflückenden Jungen, sondern als blauen Affen in einem Blumenfeld –, stieß er mit der neuen Version nicht nur bei Arthur Evans, sondern bei der ganzen Grabungsequipe und allen Touristen auf einhellige Ablehnung. Der »Blue Boy« war schon zu berühmt, als dass er sich noch hätte aus der Welt schaffen lassen; so sehr hatte er sich in der kollektiven Bilderwelt der Menschheit als die gültige Ikone minoischer Kunst festgesetzt, dass das Bildnis eines blauen Affen immer nur als Fälschung wahrgenommen worden wäre.
Der neue Wille zur Authentizität hatte zur Folge, dass Gilliérons Geschäft mit den Replika immer schlechter lief. Die Aufträge für die Werkstatt blieben aus, weil die großen Museen der Welt nun von Akademikern geführt wurden, die sich nicht mehr bunt-romantischer Träumerei, sondern bruchstückhaft-korrekter Wissenschaftlichkeit verpflichtet fühlten. Das British Museum und der Louvre stellten ihre Bestellungen minoischer Nachbildungen Ende der zwanziger Jahre ein, und das Metropolitan Museum of Fine Arts in New York, das ein Vierteljahrhundert lang zu den treuesten Abnehmern gehört hatte, gab letztmals 1931 eine Bestellung auf. Die Gilliéronschen Nachbildungen waren aus der Mode geraten, schamhaft entfernten die Museumskuratoren sie aus den Ausstellungsvitrinen und lagerten sie in den Kellermagazinen ein, aus denen sie nie wiederauftauchen sollten.
Emile Gilliérons Werkstatt aber produzierte weiter, die Steinmetze, Goldschmiede und Töpfer hatten zu tun. Gelegentlich wurden Vorwürfe laut, er stelle nicht nur Nachbildungen, sondern auch Fälschungen her. Beweisen aber konnte das niemand, weil Emile sein Geschäft ganz offen betrieb und man seine Nachbildungen nur dann als Fälschungen hätte bezeichnen können, wenn er sie als Originale ausgegeben hätte.
Das tat er aber nicht. Solange die guten Stücke sich in Gilliérons Werkstatt befanden, galten sie selbstverständlich als Nachbildungen und wäre kein Mensch auf die Idee verfallen, sie für Originale zu halten. Wenn sie dann aber erst einmal verkauft und in die weite Welt hinausgegangen waren, und wenn irgendwo auf den verschlungenen Wegen des internationalen Antiquitätenhandels ein Zwischenhändler zu erwähnen vergaß, dass es sich beim zum Verkauf stehenden Objekt nicht um ein jahrtausendealtes Fundstück, sondern um eine originalgetreue Kopie handelte – wenn so etwas in Paris oder New York oder sonst irgendwo Tausende von Kilometern abseits von Knossos geschah, lag es außerhalb von Gilliérons Einflussbereich und konnte ihm schwerlich zur Last gelegt werden.
Trotzdem kam es gelegentlich zu polizeilichen Durchsuchungen im Beisein von Sachverständigen. Aus ihren Schilderungen weiß man, dass die Werkstatt ein phantastisches Sammelsurium prähistorischer Fundgegenstände in allen Stadien der Fertigung und des Alterungsprozesses war. Bemalte Tonkrüge lagen neben rohen Scherben, rollenweise Silberdraht neben fertigem Goldschmuck, Seifendosen voller gravierter und unbehandelter Halbedelsteine neben ungebrannten Tonklumpen und
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