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Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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mehr Besucher ins »Chat noir« strömten und der Patron noch mal um eine Verlängerung bat; zudem setzte er ungefragt ihre Gage um die Hälfte hinauf. Laura d’Oriano nahm den Erfolg stirnrunzelnd, aber auch schulterzuckend entgegen; die Frage, ob er verdient sei oder nicht, stellte sich ihr nicht, sie brauchte einfach das Geld. Was die Lehrer von der Pariser Musikakademie zu ihrem Vortrag gesagt hätten und ob das Publikum sie wegen ihres Gesangs liebte oder wegen ihres Strumpfbands oder wegen ihrer sagenhaften Vita, war unerheblich; Tatsache war, dass jeden Abend Dutzende von Männern in Tränen ausbrachen, wenn sie »Bajuschki Baju« anstimmte, und dass es bei den letzten Strophen Geldscheine auf die Bühne regnete, die der Pianist dienstfertig für Laura aufhob.
    Und was war mit dem großen und weiten Gefühl in ihrer Brust, dem Laura vor langer Zeit hatte Ausdruck verleihen wollen? Was mit dem kosmischen Summen? Nun, das interessierte sie nicht mehr, in ihrem Gesang verschaffte sich jetzt eine ganz andere Empfindung Gehör, ob Laura das wollte oder nicht. Diese Empfindung war zwar womöglich nicht so groß und bedeutsam wie jene von damals, dafür aber real. Und stark. Und sie gehörte ihr allein.
    Aber natürlich konnte sie ihr Gastspiel im »Chat noir« nicht endlos verlängern, nach drei Wochen war Schluss; schließlich durfte im Publikum nicht ruchbar werden, dass die Nachtigall von Kiew in Wirklichkeit eine geschiedene Krämerstochter aus Marseille war, die ihre zwei Töchter im Stich gelassen hatte und am Vieux Port bei den Eltern in ihrem alten Kinderzimmer wohnte. Weil der Patron des »Chat noir« aber ein paar Lokalbesitzer kannte, die bei derselben Mafiafamilie wie er Schutzgeld bezahlten, bekam Laura nach ein paar Monaten eine Einladung nach Cannes. Wiederum einige Monate später hatte sie ein Gastspiel in Sète und dann eines in Nizza, und später sogar in Barcelona.
    Ihr Ruf eilte ihr voraus, überall waren die Häuser voll. Überall saßen zur Hauptsache Matrosen im Publikum, und überall brachen sie in Tränen aus, wenn Laura »Bajuschki Baju« sang. Laura hatte längst verstanden, dass diese harten Burschen, die auf stählernen Schiffen schweren Dienst leisteten, in einem früheren Leben die Söhne ihrer Mütter, die Brüder ihrer Schwestern und die Enkel ihrer Großmütter gewesen waren. Und wenn am Ende des Abends das große Deckenlicht anging, konnte Laura sehen, wie jung sie alle noch waren – die meisten jünger als sie, und viele sogar jünger als ihre Brüder Umberto und Vittorio, die sie nur mehr zu Weihnachten und Ostern sah.
    Gelegentlich kam es vor, dass einer der Matrosen am Hinterausgang auf sie wartete. Die Forschesten, die gleich ein Taxi mit laufendem Motor herbestellt hatten, ließ sie stehen; an den allzu Zaghaften, die ihr aus dunklen Hauseingängen schmachtende Blicke zuwarfen, ging sie ebenfalls vorbei. Hin und wieder aber lehnte an der Straßenlaterne einer, der seine Matrosenmütze in die Hosentasche gestopft hatte, sich eine Zigarette drehte und ihr, wenn sie an ihm vorüberging, ein Kompliment machte. Und wenn er ihr erst mal nicht hinterherlief, sondern bei der Laterne stehenblieb und wartete, ob sie ihm ein Zeichen gebe, so kam es vor, dass sie sich nach ihm umdrehte und ihn genauer anschaute. Und wenn er ihr gefiel und ein nettes Lächeln und polierte Schuhe hatte, konnte es geschehen – nicht oft, aber gelegentlich, ab und zu –, dass sie ihm das Zeichen gab.
    Laura genoss diese Stunden, weil sie wusste, dass die Matrosen im Morgengrauen wieder auf ihren Schiffen sein mussten und keiner auf die Idee verfallen konnte, sie heiraten zu wollen und nach Bottighofen zu verschleppen. Auch hatte sie keine Angst, mit ihnen allein zu sein, weil sie wusste, dass Prügel, Vergewaltigung und Totschlag allen Frauen überall auf der Welt hauptsächlich zu Hause im Kreis der eigenen Familie drohten, und dass aus Sicht der Kriminalstatistik jene Mädchen das sicherste Leben führten, die sich vom Vater, den Brüdern und deren Freunden fernhielten und niemals heirateten, sondern jeden Abend aus dem Haus gingen und sich unter möglichst fremden Menschen einen Liebhaber für eine Nacht aussuchten, von dem sie spätestens am nächsten Morgen auf Nimmerwiedersehen Abschied nahmen.
    Übrigens ähnelten die Matrosen einander alle, so sehr unterscheiden sich die Menschen ja nicht. Alle waren zu Laura ein bisschen keck und ein bisschen schüchtern, als wäre sie eine Schulkameradin oder

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