Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
wie konnte es sein, dass ein und dieselbe Person mit augenscheinlich gleicher Fachkenntnis über Mozartkugeln, den Londoner Nebel und den Reisanbau im Nildelta plaudern konnte?
In ruhigen Augenblicken musterte die Chefin Laura nachdenklich und blähte die Nüstern, als würde sie Witterung aufnehmen – als hätte sie Witterung aufgenommen und ahnte, dass dort hinter ihrem Tresen nicht nur die sprachgewandte Schreibkraft Laura d’Oriano saß, die sie auf drei Monate zur Probe angestellt hatte, sondern auch Anuschka, die Nachtigall von Kiew. Und Svenja. Und Carmen. Und Aisha.
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Am Samstag, den 26. Juni 1926, um 21 Uhr 45 erschütterte ein kurzes, heftiges Erdbeben den östlichen Mittelmeerraum. Über der Ausgrabungsstätte von Knossos stand der Vollmond, am westlichen Horizont glimmte letztes Tageslicht. In der Villa Ariadne lag Arthur Evans im Bett und las in einem Buch, Emile Gilliéron junior saß mit einer Flasche Armagnac auf der Veranda. Mit dem ersten scharfen Erdstoß fing das massive Steinhaus an zu ächzen und zu kreischen, dann schwankte es wie ein Schiff auf hoher See; Arthur Evans berichtete drei Monate später in der Londoner »Times«, er sei von der heftigen Bewegung richtiggehend seekrank geworden. Aus dem Erdreich stieg während der fünfundsiebzig Sekunden, die das Beben dauerte, ein dumpfes Brüllen wie von einem wütenden Stier, in der Nähe war das Krachen einstürzender Hausdächer zu hören, dazwischen Frauengekreisch und Kinderweinen. Aus der Stadt drang eine Art inversives Glockengeläut herüber von der Kathedrale, die sich mitsamt ihren Türmen und Glockenkörpern hin und her bewegte, während die Klöppel in den Glocken frei hängend stillhielten. Und als das Beben vorbei war, erhob sich eine Staubwolke himmelan und bedeckte den Vollmond.
Den Rest der Nacht verbrachten Arthur Evans und Emile Gilliéron im Garten und warteten auf weitere Erdstöße. Nachdem diese ausgeblieben waren, besichtigten sie in der Morgendämmerung die Palastanlage. Die neue Stahlbetonkonstruktion über dem Thronsaal hatte dem Beben standgehalten, ebenso das Zollhaus und das Bollwerk; aber fünfzig große Tonkrüge waren zerschlagen und zwei Schlangengöttinnen entzweigebrochen, und auch die Fresken hatten erheblichen Schaden genommen. Das von Emile Gilliéron senior mehr imaginierte als restaurierte Juwelenfresko, auf dem eine Pariserin einer anderen Pariserin mit spitzen, rotlackierten Fingernägeln an die Halskette fasste, war pulverisiert worden; auch die Reproduktion des Safran pflückenden Blue Boy war beschädigt.
Emile Gilliéron stand nun vor der Aufgabe, die von seinem Vater restaurierten Fresken wieder instand zu stellen. Anderthalb Jahre war es her, dass er dessen Asche im Hafen von Villeneuve dem Genfersee übergeben hatte. Er war nun nicht mehr der Junior, sondern Oberhaupt und Ernährer einer großen, kostspieligen Familie. Er hatte vom Vater, als dessen Kräfte nachzulassen begannen, nacheinander die Professur an der königlichen Kunstakademie, die Anstellung am Französischen Archäologischen Institut und die künstlerische Leitung auf Knossos übernommen. Für die griechische Nationalbank hatte er eine Serie neuer Münzen gestaltet, auf denen die Schutzgöttin Athene, die Jahreszahl 1926 und der Namenszug »Gilliéron fils« zu sehen war; nebenher führte er die Werkstatt seines Vaters weiter, in der eine Gruppe von Goldschmieden, Töpfern und Steinmetzen auf Bestellung Nachbildungen von Statuetten, Vasen, Goldschmuck und Kampfschwertern anfertigte.
Den letzten Schritt in die Welt der Erwachsenen hatte er dann getan, als er eine seiner Kunstschülerinnen heiratete. Sie hieß Ernesta Rossi und war die Tochter des königlichen Kutschenbauers, und sie war ihm anfangs vor allem dadurch aufgefallen, dass sie immer nur die Akropolis in Öl malen wollte und sich für nichts interessierte, was er der Klasse sonst noch beizubringen versuchte – weder fürs Aktzeichnen mit dem Rötelstift noch für Portraits in Kohle oder für Stillleben in Wasserfarben. Nach der Hochzeit hatte sie ihre Staffelei auf der Dachterrasse des Gilliéronschen Hauses aufgestellt und weiter die Akropolis in Öl gemalt – die Akropolis bei Sonnenaufgang und die Akropolis bei Sonnenuntergang, die Akropolis bei Nacht und in der Mittagsglut, die Akropolis unter Schnee und die Akropolis im strömenden Regen – und Emile Gilliéron hatte sie gewähren lassen im Wissen, dass Selbstbeschränkung für jeden Künstler zwar die
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