Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
frisch geschmiedeten Lanzenspitzen, Doppeläxten und Kampfdolchen.
Ein besonders lohnender Produktionszweig war über viele Jahre die Anfertigung von zehn bis dreißig Zentimeter hohen Frauengestalten, die in jeder Faust eine Schlange hielten und dem Betrachter ihre baren Brüste entgegenstreckten; diese sogenannten Schlangengöttinnen oder -priesterinnen galten bei Museumskuratoren und privaten Sammlern als besonders repräsentative Sinnbilder für die minoische Gesellschaft, die sich Arthur Evans seit jeher als eine matriarchalische gedacht hatte. Waren die ersten Schlangengöttinnen, die zu Beginn der Grabungen auf Knossos 1903 gefunden wurden, noch schlicht gearbeitete Figuren aus Terrakotta oder Alabaster gewesen, so tauchten im Lauf des Ersten Weltkriegs aus dunklen Quellen immer kostbarer gearbeitete Statuetten aus Elfenbein und Gold auf, für welche die Museen trotz ihrer unklaren Herkunft fast zwanzig Jahre lang hohe Summen bezahlten.
In Gilliérons Werkstatt gab es Schlangengöttinnen in allen Stufen der Fertigung, vom rohen Elfenbein bis zur auslieferungsbereiten und künstlich gealterten Göttin. Da der neue Publikumsgeschmack es so wollte, verlieh man den frisch geschnitzten und goldgeschmückten Figuren die Patina vergangener Jahrtausende, indem man sie ins Säurebad legte, wo sich die weichen Bestandteile des Elfenbeins auflösten, als hätten die Schlangengöttinnen seit prähistorischen Zeiten im sauren Erdreich gelegen; einen Unterschied zu echt gealtertem Elfenbein konnte selbst Arthur Evans nicht ausmachen. Eine einfachere und kostengünstigere M eth ode bestand darin, die Schlangengöttinnen im Garten an einer bestimmten Stelle zu vergraben und alle Mitglieder des Haushalts anzuweisen, ihr Wasser bis auf weiteres dort abzuschlagen.
In einem letzten Arbeitsschritt wurde der künstliche Alterungsprozess vollendet, indem man den allzu makellosen Schlangengöttinnen mit gezielten Hammerschlägen kleine Schäden zufügte. Meist wurde ein Arm abgeschlagen oder ein Unterschenkel zertrümmert. Schläge gegen den Kopf hingegen versuchte man zu vermeiden, weil Schlangengöttinnen mit fehlendem Kopf oder zerstörtem Gesicht schlechte Preise erzielten. Wenn aber doch einmal eine Figur mit zerstörtem Gesicht auf dem Markt auftauchte, galt dies unter Fachleuten als sicherer Beweis ihrer Authentizität, weil ein solch wertmindernder Schaden ja kaum das Werk eines Fälschers sein konnte.
Zwanzig Jahre lang war der Palast des König Minos der Sehnsuchtsort der archäologischen Weltöffentlichkeit gewesen. Arthur Evans war von Königin Victoria zum Ritter geschlagen worden, Emile Gilliéron hatte mit seinen Illustrationen und Nachbildungen mehr Geld verdient als jemals ein Antikenzeichner vor ihm. Wenn britische Millionärsgattinnen, deutsche Stahlbarone oder amerikanische Filmschauspieler eine Mittelmeerkreuzfahrt unternahmen, war ein Besuch auf Knossos Pflicht. Dann ließ man sich von Arthur Evans im Palast herumführen und auf der Terrasse der Villa Ariadne verköstigen, und wenn sich am Ende eines langen, warmen Tages die Dämmerung über die Anlage legte, wollte es manchen scheinen, als müsste nächstens eine federngekrönte Schlangengöttin oder König Minos persönlich die große Freitreppe hinuntersteigen. So verlockend war das Traumbild, dass die amerikanische Tänzerin Isadora Duncan bei ihrem Besuch nicht anders konnte, als auf der Freitreppe zwischen den schwarz-braunen Säulen barfuß und mit wehenden Gewändern einen improvisierten, minoisch-mykenischen Tempeltanz zu vollführen.
Das alles fand schlagartig ein Ende, als am 4. November 1922 tausend Kilometer südlich von Knossos der britische Archäologe Howard Carter im Tal der Könige das Grab des Tutanchamun entdeckte. Plötzlich fuhren die Jachten der Millionäre nicht mehr nach Kreta, sondern nach Ägypten. Alle wollten jetzt die goldene Totenmaske und die lapislazuliumrandeten Augen, den Sarg aus reinem Gold und die zahlreichen vergoldeten Schreine, den goldenen Thron und die beiden Wächterstatuen sehen. Weltweit brach in den Museen, Zeitungen und Universitäten eine Ägyptomanie aus, die viele Jahre anhalten sollte. Und gänzlich in Vergessenheit geriet der Palast des König Minos, als in Mesopotamien ein anderer Brite namens Leonard Woolley die biblische Stadt Ur entdeckte, die noch tausend Jahre älter war als Knossos und aparterweise übersät war mit tönernen Keilschrifttafeln, auf denen man schlüssig nachlesen konnte, dass schon
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