Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
Neutronen in wenigen Tagen nieder. Er hatte die Idee lange ausgebrütet, jetzt lag sie offen vor ihm. Plötzlich lagen die Kämpfe, Zweifel und Entscheidungen der letzten Jahre weit zurück, als hätte jemand anderes sie ausgestanden. Als sein Aufsatz im Juli 1936 in der »Physical Review« erschien, erregte er Aufsehen, Bohr und Heisenberg schickten Briefe und gratulierten. Felix selber aber bedeutete der Magnetismus der Neutronen nun nichts mehr; fast wunderte ihn, dass er sich so lange darüber den Kopf hatte zerbrechen können. Die Idee schien ihm nun, da sie zu Papier gebracht war, banal und belanglos, auch weil niemand sie verstehen würde außer ein paar Sonderlingen, wie er selber einer war.
Die Atomphysik überhaupt war ihm wegen ihrer Sinn- und Zwecklosigkeit, für die er sie einst geliebt hatte, gleichgültig geworden. Er fand es eitel und geradezu obszön, dass man angesichts der Katastrophe, die die Welt zu erfassen drohte, seine Zeit mit selbstgenügsamen Introspektionen vergeudete. Wenn er nachts in seinem Junggesellenbungalow wachlag und aus den Foothills das Heulen der Kojoten herüberklang, fühlte er sich fremd und nutzlos, weil er mit seiner Lebenszeit nichts Sinnvolles anfing, keinen Freund hatte und seinen Nächsten zu Hause nicht beistehen konnte. Seine Reise nach Europa hatte nur seinem eigenen Wohlbefinden gedient, den Menschen in Not war er keine Hilfe gewesen. Er schämte sich der Monate, die er lümmelnd in seinem Zürcher Kinderbett und am Küchentisch der Mutter verbracht hatte, und er schämte sich der letzten zehn Jahre seines Lebens, die er ohne Nutzen für die Allgemeinheit vertan hatte.
Aber weil er einen Arbeitsvertrag mit der Universität unterschrieben hatte und Geld für Essen, Benzin und Miete brauchte, stand er jeden Morgen auf, duschte und rasierte sich und ging in den Vorlesungssaal des physikalischen Instituts, um seinen blonden, muskelbepackten Unschuldslämmern etwas über die Spektrallinien der Atome oder den Aufbau des Periodensystems zu erzählen. Er war ein guter Lehrer und bei den Studenten beliebt, weil er sie freundlich bei der Hand nahm und durchs Meer ihrer Unwissenheit sicher von einer Eisscholle zur nächsten leitete.
Er selber aber war nicht mehr neugierig. Er wollte nicht mehr herausfinden, ob Elektronen nun Weitsprung oder Hochsprung oder sonst etwas Schönes machten, und das Sowohl-als-auch-Getue der Quantentheorie fand er nur noch kokett. Nach Berkeley zu den Seminaren mit Oppenheimer fuhr er nicht mehr, Fachzeitschriften las er nur noch gelegentlich.
Deshalb hatte er viel freie Zeit und zuwenig Beschäftigung für seinen Verstand. Er hätte trinken mögen, aber der Alkohol brachte den Leerlauf seiner Gedanken nicht zum Stillstand, sondern beschleunigte ihn nur; zudem schmeckte ihm das dünne amerikanische Bier nicht, von dem er, weil er ein großgewachsener und kräftiger Mann war, unappetitlich große Mengen hätte zu sich nehmen müssen, um einen Effekt zu verspüren.
Also fuhr er an einem Samstagmorgen im April 1936 nach San Francisco, kaufte im Cole Hardware Store einen Satz Schraubenschlüssel erster Qualität und verbrachte von da an seine Freizeit damit, den Chevrolet Sportster auf Vordermann zu bringen. Er nahm die Stoßstangen ab und legte sie im Labor des chemischen Instituts ins Chrombad. Er schliff die rostfleckigen Kotflügel und bemalte sie neu mit feuerwehrrotem Lack. Das schwarze Dach der Fahrerkabine strich er weiß, damit es weniger Sonnenlicht absorbierte. Er polsterte die durchgesessenen Sitze neu auf, dann schliff und lackierte er die hölzernen Radspeichen. Er nahm den Zylinderkopf ab und schnitt aus einer dünnen Korkplatte in dreitägiger Präzisionsarbeit eine neue Zylinderkopfdichtung, obwohl er für wenig Geld aus Detroit eine hätte bestellen können. Dann schmierte er sämtliche Lager und ersetzte den Keilriemen, bohrte das Einlassventil aus und schraubte tagelang am Zündverteiler, und zum Schluss verkürzte er den Auspuff, verlängerte ihn wieder und verkürzte ihn erneut.
Als er mit allem fertig war, sah der Chevrolet aus wie neu und der Motor war leistungsstärker als am Tag, an dem er in Detroit aus dem Werk gerollt war. Felix Bloch lauschte dem Surren des Motors und freute sich der Schönheit, die einer funktionierenden Maschine innewohnt, und dabei waren es zu seinem Erstaunen nicht die komplexen elektrischen Komponenten wie die Lichtmaschine, der Zündverteiler oder der Unterbrecher, die ihm am besten gefielen,
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