Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
sei und sich am folgenden Montag zwischen acht und zehn Uhr zur Immatrikulation in der Aula Magna einzufinden habe.
Emile begriff, dass die eigentliche Absenderin nicht die Kunstgewerbeschule Basel, sondern die Bürgerschaft von Villeneuve war, die einige seiner Zeichnungen entwendet und nach Basel geschickt haben musste, und dass er den Brief nicht als Einladung, sondern als Verbannung zu verstehen hatte. Also packte er verächtlich schnaubend sein Bündel, reiste nach Basel und stellte nach dem ersten Semester verächtlich schnaubend fest, dass er alles, was die Professoren ihm beibringen wollten, eigentlich schon konnte. Gewiss lernte er Techniken des Skizzierens, Schabens, Spachtelns, Stechens, Modellierens und Ätzens, von denen er in Villeneuve nie gehört hatte, und in der ständigen Ausstellung des Kunstmuseums taten sich ihm Welten auf, die er sich im Sumpf des Rhonedeltas nicht hätte träumen lassen; zurück im Klassenzimmer aber kopierte, variierte und karikierte er nach Belieben jeden Alten Meister, den er gesehen hatte, jeden Stil und jede Schule. Er malte runde Puttenengel wie Rubens und pfeildurchbohrte Märtyrer wie Caravaggio, und er brachte seine Mitschüler zum Lachen, indem er pfeildurchbohrte Puttenengel malte und tanzende Märtyrer, denen gebratene Hühnerschenkel aus dem Mund ragten; er töpferte Vasen und modellierte Götterstatuetten und zeichnete griechische Tempel und Statuen, als hätte er sein ganzes bisheriges Leben auf dem Peloponnes verbracht, und das alles mit einer Lässigkeit, Gleichgültigkeit und Geringschätzung gegenüber der eigenen Begabung, die seine Professoren faszinierte und auch ein wenig beleidigte.
Nach dem Unterricht zog er durch die Kneipen Kleinbasels und erlangte Berühmtheit, weil er Weißwein saufen konnte wie kein zweiter. Wo immer er hinkam, machte er sich Freunde mit seiner ungekünstelten Herzlichkeit und bäuerlichen Schlagfertigkeit; seine Kommilitonen aber nahmen ihm übel, dass er, der im Unterricht immer alles gleich konnte, was sie erst mühsam erlernen mussten, jedes gelehrte Stammtischgespräch über Kunst und Musenkuss verweigerte, weil er sich mehr für die Beine und Dekolletés der Kellnerinnen interessierte.
Emile Gilliéron war bei aller Faulheit und Nonchalance unbestreitbar der beste Schüler seines Jahrgangs. Er gewann sämtliche Wettbewerbe, obwohl die Schulleitung ihn jedes Mal zur Teilnahme drängen musste und er seine Arbeiten immer erst in der Nacht vor dem Abgabetermin anfertigte, und als die Merian-Stiftung ein zweijähriges Stipendium für die École des Beaux-Arts in Paris ausschrieb, bewarb er sich nur, um die unausweichliche Rückkehr nach Villeneuve hinauszuschieben.
Die folgenden zwei Jahre verbrachte er hauptsächlich in den Bistros des Marais und des Montmartre. Zwischendurch nahm er der Form halber ein bisschen Unterricht bei den populärsten Professoren und Künstlern seiner Zeit. Die monatlichen Stipendienzahlungen deckten seinen Geldbedarf nur bis Mitte des Monats, danach kopierte er Werke von Millet, Troyon und Courbet und verkaufte sie an Kneipenwirte und Touristen. Am meisten Geld verdiente er mit der Anfertigung griechisch-römischer Architekturschwarten in jenem pompös-historistischen Stil, der beim konservativen, selbstgefälligen Bürgertum unter Napoleon III . so beliebt war.
Zwar war in der Pariser Bohème das Tragen blauer Jacken geradezu Pflicht, aber Emile schaffte es auch in dieser vergleichsweise libertären Umgebung in kürzester Zeit, sich bei allen Würdenträgern unbeliebt zu machen. Seine Erfolgschancen in der Pariser Kunstszene beeinträchtigte er schon zu Beginn des ersten Studienjahres nachhaltig, als er zur Eröffnung des jährlichen Salons mit einer entkorkten Weißweinflasche in der Hand auftauchte und während der gesamten Ansprache des Akademiepräsidenten auf den Stockzähnen grinste. Als er dann auch noch im Garten hinter einer Jeanne-d’-Arc-Statue urinierte und einem Lakaien ein Tablett mit Petits Fours aus der Hand schlug, wurde er von zwei uniformierten Ordnungshütern auf die Straße geworfen.
Die Zeit verging schnell. Es nahte der Tag, an dem Emile gezwungen sein würde, nach Villeneuve zurückzukehren und ein für allemal eine schwarze Jacke überzuziehen. Da geschah es, dass der deutsche Milliardär Heinrich Schliemann, der an der Place Saint Michel ein schönes Haus besaß und es sich um die Lebensmitte in den Kopf gesetzt hatte, seine russischen Handelsgeschäfte fahrenzulassen
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