Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
und Seifenwasser in Sicherheit zu bringen und zuhanden der Nachwelt in der Kirche aufzustellen, hatten sie trotzig die Fäuste in den Taschen versenkt und die Unterlippen vorgeschoben, weil man für diese Arbeit den Steinmetz aus Vevey hätte herbeirufen und ihm mindestens fünfundzwanzig Batzen geben müssen, und sie hatten erst gehorcht, nachdem der Archäologe die fünfundzwanzig Batzen auf den Waschtrog gezählt und fünfzehn weitere dazugelegt hatte.
Dies hatte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts ereignet, während Emile Gilliérons Vater in Villeneuve heranwuchs als einziger Sohn des Dorfschullehrers und ganz gewöhnlicher Dorfjunge ohne auffällige Merkmale. Er war durchschnittlich groß, durchschnittlich kräftig und durchschnittlich braunhaarig, und er hatte keine herausragenden Eigenschaften oder erkennbaren Talente außer dem einen: er konnte unglaublich gut zeichnen – unglaublich scharf, unglaublich ausdrucksstark, und mit unglaublicher, geradezu fotografischer Präzision und Vorstellungskraft. Er hatte keinen besonderen Unterricht genossen, war von niemandem ermuntert und von niemandem zum Üben angehalten worden, er tat es nicht mal sonderlich gern – er konnte es einfach. Und weil Villeneuve für junge Leute wenig Zerstreuung bot, zeichnete er ohne Unterlass. Schon als Siebenjähriger hatte er auf dem Pflaster des Pausenplatzes mit fliegender Hand verblüffende Kohleportraits seiner Schulkameraden angefertigt, und sonntags war er mit dem Aquarellkasten zum Hafen gelaufen und hatte die Schiffe und die Weiden am Ufer und die schneebedeckten Berge am Horizont mit einer Leichtigkeit aufs Papier geworfen, dass der Betrachter die Brise zu spüren glaubte, die am Nachmittag vom See her landeinwärts wehte.
Die Bürger von Villeneuve hatten seine Begabung zur Kenntnis genommen, ohne sich darüber den Kopf zu zerbrechen. So etwas gibt’s, sagten sie schulterzuckend, manche können Sachen, die andere nicht können, man darf da nicht ins Grübeln geraten. Es gibt Leute, die spüren Wasseradern oder hören Geisterstimmen, andere sprechen in Zungen oder können Warzen wegmachen. Der kleine Gilliéron kann nun mal gut zeichnen, was soll’s. Macht nix und schadet keinem. Solange er mit seinen Farbstiften spielt, macht er keine größeren Dummheiten.
Gilliéron selber maß seiner Begabung ebenso wenig Bedeutung bei. Das Zeichnen war ihm ein bloßer Zeitvertreib, der ihm übrigens nicht sonderlich viel Vergnügen bereitete. Auch war er nicht etwa stolz auf seine Zeichnungen, ging nicht mit ihnen hausieren und bewahrte sie nicht auf, sondern legte sie, kaum dass sie fertig waren, neben den Ofen zum Anfeuern aufs Brennholz.
Das änderte sich erst 1866, als er fünfzehn Jahre alt wurde, sich eine blaue Jacke zulegte und davon zu träumen begann, für immer nach Italien abzuhauen, statt wie die anderen Welpen seines Jahrgangs Bauer, Fischer oder Dorfschullehrer in Villeneuve zu werden. Als ihn der Vater ans Lehrerseminar nach Lausanne schicken wollte, verkündete er verächtlich schnaubend, dass er sich eher vierteilen lassen würde, als den Rest seiner Tage zwischen Lehrerpult und Schiefertafel zu vergeuden.
Stattdessen richtete er in einer verlassenen Scheune am Rand des Sumpfs sein erstes Künstleratelier ein, ließ sich das Kopfhaar lang wachsen und rauchte Waldrebenstengel, die er im Sumpf von den Bäumen gerissen und auf dem Scheunenboden zum Trocknen ausgelegt hatte. An den Markttagen lungerte er vor den Gasthäusern herum und versorgte die Pferde der auswärtigen Bauern unter der Bedingung, dass sie ihm dafür ein Glas Féchy spendierten. Wenn er Geld brauchte, ging er den Winzern in den Weinbergen zur Hand oder putzte den Fischern die Netze. Wenn das Wetter gut war, verbrachte er die Abende mit seinen Freunden am See unter einer alten Trauerweide. Während der kalten Jahreszeit diente sein Atelier als Treffpunkt.
So verging ein Jahr, dann ein zweites und ein drittes. Als aber Emile Gilliéron und seine Freunde volljährig wurden und noch immer keine Anstalten machten, ihre blauen Jacken gegen schwarze oder wenigstens gegen graue einzutauschen, beschlossen die Bürger von Villeneuve, dass es genug sei. In einer lauen Frühlingsnacht brannte Emiles Atelier aus nie geklärten Gründen vollständig nieder, und zwei Wochen später brachte ihm der Postbote einen Brief, in dem ihm zu seiner Überraschung die Kunstgewerbeschule Basel mitteilte, dass er zum Lehrgang für angehende Zeichnungslehrer zugelassen
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