Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
Lieblingsnichte oder eine Enkelin, dann überquerte er die Straße, packte Laura bei den Schultern und küsste sie kräftig auf beide Wangen. Er nahm ihr die Reisetasche ab, legte den Arm um sie und zog sie rasch in eine Seitengasse, an deren Ende ein Feldweg hinaus in einen Rebberg führte.
Im Rebberg stand ein roter Traktor. Der Bauer schwang sich hinter den Lenker, Laura stieg auf den kleinen Sitz über dem rechten Hinterrad. Sie fuhren ans Ende des Rebbergs, von wo ein anderer Feldweg in den nächsten und den übernächsten Rebberg führte, und so ruckelten Laura und der Bauer zwei Stunden lang holpernd und schüttelnd durch die Rebberge Aquitaniens westwärts dem Sonnenuntergang entgegen, bis sie die Demarkationslinie hinter sich gelassen hatten und im lichten Pinienwald verschwanden, der sich über Dutzende von sandig-sumpfigen Kilometern bis zum Atlantischen Ozean und hinauf zur Gironde erstreckte.
Am folgenden Nachmittag tauchte Laura allein, mit zerzaustem Haar und zerschrammten Schuhen in Bordeaux auf. Sie machte einen ersten Spaziergang durch die Innenstadt, kaufte neue Straßenschuhe und ließ sich das Haar beim Coiffeur richten, dann trank sie Kaffee in einem Straßenrestaurant. Als es Abend wurde, ging sie zur Pension einer Madame Blanc, Rue du Quai Bourgeois Nummer 4, deren Adresse sie auf einem Zettel notiert hatte. Die Pension befand sich am Ufer der Garonne unweit des Hafens. Es gab noch freie Zimmer, und die Preise waren niedrig. Seit die Flüchtlinge vor der anrückenden Wehrmacht geflohen waren, standen in Bordeaux viele Zimmer leer.
Ihren ersten Bühnenauftritt hatte Laura am folgenden Samstag in einem Nachtcafé namens »Le Singe Dansant«. Sie trug wieder ihr altes Kosakenkostüm, zeigte wieder ihr Strumpfband und sang wieder »Bajuschki Baju«, und die Matrosen im Publikum brachen wieder in Tränen aus; der einzige Unterschied zu früheren Auftritten war der, dass hier die Matrosen Uniformen der italienischen Kriegsmarine trugen, weil sie zur Besatzung der zweiunddreißig U -Boote gehörten, die unter deutschem Oberkommando im Hafen von Bordeaux stationiert waren und sich auf ihren Einsatz in der Atlantikschlacht vorbereiteten. Und weil sie um Mitternacht zurück bei ihren U -Booten sein mussten, wartete keiner von ihnen auf Laura, als sie um halb eins durch den Hinterausgang auf die Straße trat.
Trotzdem erwies sich ihre Aufgabe als einfach, das reine Marionettenspiel. Es war alles so einfach, dass es Laura hätte traurig machen müssen, wenn sie darüber nicht so erleichtert gewesen wäre. Sie musste nur anderntags vor dem Schminkspiegel eine Andeutung von slawischen Wangenknochen auftragen und ihr Kosakenjäckchen über die Schultern werfen, und schon erkannten die italienischen Matrosen sie wieder, als sie auf ihrem Sonntagsspaziergang an der Hafeneinfahrt vorbeischlenderte.
Laura musste sich nicht einmal in den Hüften wiegen, um die jungen Burschen aus der Fassung zu bringen, es reichte vollauf, dass sie am Quai du Sénégal stehenblieb und sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Als sie in ihrer Handtasche nach Streichhölzern kramte, stürzte schon ein ganzes Rudel von ihnen herbei, um ihr Feuer anzubieten und auf vielerlei Art das Pfauenrad zu schlagen, und als sie sich in makellosem Italienisch bedankte und den Burschen im Weitergehen über die Schulter hinweg mit den Fingerspitzen zuwinkte, dazu auch noch leichthin Arrivederci sagte und ihre weißen Zähne zeigte, kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr.
Es war alles so vorhersehbar, das jahrmillionenalte Marionettenspiel. Aber Laura spielte mit, weil es ihrem Zweck diente. Von jenem Sonntag an war sie bei den italienischen U -Boot-Matrosen eine Berühmtheit. Wenn sie im Straßencafé einen Martini bestellte, war dieser immer schon bezahlt. Wenn sie Einkäufe schleppte, war stets ein Kavalier zur Stelle, ihr diese in die Rue du Quai Bourgeois zu tragen. Und wenn sie im Botanischen Garten mit ihrem Stendhal oder Verlaine auf einer Parkbank Platz nahm, bat immer einer darum, sich für einen Augenblick zu ihr setzen zu dürfen.
So kam Laura mit ihnen ins Gespräch. Immer wieder aufs Neue musste sie zugeben, dass sie im richtigen Leben gar keine echte Kosakin, sondern eine brave Lehrerstochter aus Marseille sei, und dass sie nicht wirklich Anuschka heiße, sondern eigentlich auf den Namen Louise höre und von ihren Freunden Loulou gerufen werde, und dass sie deshalb so gut Italienisch spreche, weil ihre Mutter
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