Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
Schock. Oppenheimer, Bloch und B eth e ließen ihre Berechnungen liegen und beugten sich über das neue Problem. Es war eine bekannte Tatsache, dass Wasserstoff unter hohen Temperaturen instabil wurde, und Stickstoff, aus dem die Luft zu drei Vierteln besteht, ebenfalls. Die Frage war, bei welcher Temperatur eine Kettenreaktion ausgelöst würde und die Erde in Brand geriete.
Diesen Gedanken hatte vor Edward Teller nie ein Mensch gedacht, eine Antwort wusste niemand. Oppenheimer beauftragte B eth e, Tellers Berechnungen zu überprüfen. Nach ein paar Tagen gab B eth e Entwarnung, die Wahrscheinlichkeit einer globalen Entzündung von Luft und Wasser gehe »stark gegen Null«. Eine Kettenreaktion könne auch bei höchster Ausgangstemperatur nicht einsetzen, weil die Atomkerne in Luft und Wasser weit auseinanderlägen und der Energieverlust deshalb viel zu groß sei.
Eine Garantie konnte B eth e jedoch nicht geben, und bei einzelnen Teilnehmern blieben Zweifel zurück. Robert Oppenheimer aber atmete auf, denn die Ereignisse der letzten Zeit hatten ihn mehr denn je in der Überzeugung gefestigt, dass die Bombe unabdingbar nötig war, um Hitler in die Knie zu zwingen. In Russland hatte vor wenigen Tagen die Wehrmacht auf ihrem Weg zu den Ölfeldern des Kaukasus Stalingrad angegriffen, und im Atlantik hatte das deutsche U -Boot U 201 den unbewaffneten britischen Passagierdampfer Alvira Star versenkt.
Das Seminar wurde weitergeführt, alle setzten ihre Arbeit fort.
Der Sommer verging. Das Seminar war vergnüglich, die Diskussionen blieben lebhaft. Eines Nachmittags im August aber, als die Sonne schon tief stand und durch die französischen Fenster in den Raum schien, ereignete sich eine Episode, an die sich Oppenheimers Assistent Robert Serber zeitlebens erinnern sollte. Oppenheimer unterbrach die Diskussion und sagte:
Jesus, schaut euch das an.
Über dem ganzen Raum lag der Schatten jenes Stahlnetzes, das zum Schutz der Seminarteilnehmer vor dem Balkon aufgespannt war. Das schwarze Karomuster lag über den Wänden und den Schreibtischen, über den Stühlen und den Papierstößen, auch die Hände und die Gesichter der Atomphysiker waren darin gefangen – über alles hatte sich der dunkle Schatten dieses Netzes gelegt.
Zwölftes Kapitel
Am Nachmittag des 7. Juni 1941 saß Laura d’Oriano im Überlandbus von Toulouse nach Mont-de-Marsan. Es war heiß, der Bus fuhr durch Rebberge und Kornfelder der Sonne entgegen, die schon tief im Westen stand. Alle Schiebefenster des Busses standen offen, die Vorhänge flatterten im Fahrtwind. Laura hatte ein Kopftuch umgebunden und las in einem Buch, über ihr lag eine kleine Reisetasche im Gepäcknetz; ihren edlen, aber auffälligen Reisekoffer hatte sie in Marseille zurückgelassen.
Der Chauffeur musterte sie im Rückspiegel. Gut möglich, dass er sie für eine Kriegswitwe aus Toulouse hielt, die in Erbschaftsangelegenheiten zur Familie ihres Mannes fuhr, oder für eine Grundschullehrerin, die ihre Eltern auf dem Land besuchte und sich die Reisezeit mit Verlaine oder Stendhal vertrieb.
Falls Polizisten für eine Personenkontrolle in den Bus gestiegen wären, hätte Laura ihre neue Identitätskarte aus der Handtasche geholt und sich als die französische Staatsbürgerin Louise Fremont ausgewiesen, wohnhaft in Paris, geboren am 27. September 1912 in Marseille. Zivilstand: ledig. Körpergröße: 1,61 Meter. Beruf: Tänzerin und Sängerin. Und dabei hätte sie sorgsam den Blick von ihrer Reisetasche ferngehalten, in dessen Futteral siebentausend Francs in kleinen Scheinen und allerlei Rationierungskarten eingenäht waren.
Bei der Abfahrt in Toulouse war der Bus ziemlich voll gewesen, dann hatte er sich allmählich geleert; jetzt war die Küstensperrzone nah, Laura war der letzte verbliebene Fahrgast. Der Chauffeur beachtete sie nicht mehr, er hatte sich sein Bild von ihr gemacht. An der drittletzten Haltestelle vor der Demarkationslinie, einem Winzerdorf namens Aire-sur-l’Adour, stieg sie aus und fand sich wieder in einer schmalen Hauptstraße mit geschlossenen Krämerläden, zwischen denen links und rechts kleine Seitenstraßen abgingen. Weiter vorn läuteten Kirchenglocken zur Messe. Das Kopfsteinpflaster war noch heiß von der nachmittäglichen Sonne.
Als der Bus abfuhr, winkte ihr auf der anderen Straßenseite ein hagerer alter Bauer mit roter Nase und grauem Stoppelbart. Er begrüßte sie freudig und nannte sie lauthals »ma petite Louise«, als sei sie seine
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