Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
britischen Zivilverwaltung auf einen Zettel und reicht ihn seinem Gegenüber. »Melden Sie sich bei dem Lieutenant. Er wird Sie und Ihre Familie auf eine lange Reise schicken.«
»Ich bin schon unterwegs!«, ruft der Künstler.
»Nicht so hastig.« Stave erhebt sich. »Ich bringe Sie bis nach unten«, verkündet er – nicht dass Michel in der Zentrale noch einem Kollegen über den Weg läuft und anfängt zu reden.
Direkt im Anschluss steigt Stave auf sein Rad. Die tönerne Kopie des Gehstockgriffes hat er in seiner Manteltasche versteckt, damit niemand sieht, dass er etwas mitnimmt. Er fährt zur Alster. Die feinen Viertel dort sind fast wie ausgestorben – keine Kippensammler mehr, die niedergebrannte Stummel englischer Soldaten vom Bürgersteig klauben, keine Einbeinigen, die in den blechernen Mülleimern der Besatzungssoldaten wühlen. Es geht aufwärts, denkt Stave. Keine Demütigung mehr. In der Neuen Rabenstraße kommt ihm eine Gruppe von Medizinstudenten entgegen, junge Leute, die mit blassen Gesichtern das Gebäude der Rechtsmedizin fluchtartig verlassen.
»Ich habe mit einem der Toten aus Ihrer Sammlung ein Experiment vor«, begrüßt der Oberinspektor Doktor Czrisini.
»Wollen Sie meinen Posten übernehmen? Den können Sie haben.« Der Rechtsmediziner hustet. »Welche Leiche darf es denn sein?«
»Der Tote aus dem Reimershof.«
»Sie sind noch immer auf vermintem Gelände unterwegs? Gehen wir in den Kühlraum. Die Studenten habe ich versorgt, die meisten Kollegen machen gerade Mittagspause. Wir sollten dort allein sein. Zeugen sind Ihnen wahrscheinlich unangenehm.«
»Ich bin Ihnen einen Gefallen schuldig.«
»Dann müssen Sie sich aber beeilen«, murmelt Czrisini.
Der Kripo-Beamte fragt sich beunruhigt, was es mit diesen seltsamen Kommentaren in letzter Zeit auf sich hat, während er hinter dem Arzt die Treppe in den Keller hinabsteigt.
Als Czrisini die Schublade mit den sterblichen Überresten Rolf Rosenthals herauszieht, nimmt Stave das Tonmodell aus der Manteltasche.
Der Rechtsmediziner lächelt dünn. »Verstehe. Ich frage Sie nicht, wie Sie darangekommen sind. Oder wem das gehört.« Behutsam greift er nach der Kopie des Gehstockgriffes und führt sie zum Kopf des Toten. »Das passt«, verkündet er zufrieden. »Sie können diesen Griff genau in das Loch auf dem Schädel einführen: die gleiche Größe, die gleiche L-Form.«
»Stellen Sie sich einen Gehstock mit einem schweren silbernen Griff vor: Hat der diese tödliche Verletzung verursacht?«
»Sprechen Sie im Konjunktiv. Ein Beweis ist das selbstverständlich noch nicht. Schon gar nicht, wenn ich bloß ein Tonmodell dieses ominösen Griffs habe.«
»Aber ein Indiz.«
»Wie aus dem Lehrbuch. Vielleicht wird es ausreichen, um Oberinspektor Dönnecke zu neuen Ermittlungen anzustacheln.«
»Ich dachte weniger an den Kollegen, sondern mehr an den Staatsanwalt«, erklärt Stave.
»Dafür ist das hier zu wenig. Aus einer L-förmigen Schädelfraktur und einem L-förmigen Gehstockgriff zimmern Sie keine Anklage. Und kein Rechtsmediziner würde vor Gericht einen Eid darauf schwören, dass eine Schädelverletzung und ein Gehstockgriff zusammenpassen wie Schloss und Schlüssel. Wenn das anders wäre, könnten Sie jeden Fußlahmen in dieser Stadt des Mordes im Reimershof bezichtigen.«
Auf dem Weg zurück nach oben schüttelt ein schwerer Hustenanfall den Pathologen. Czrisini krümmt sich, seine mageren Hände umklammern das Geländer, als wäre er ein Ertrinkender, der nach einem Balken greift. Er hält sich ein Taschentuch vor den Mund. Als er sich endlich wieder aufrichtet, glänzen Schweißperlen auf seiner Stirn. Das Taschentuch ist blutrot.
»Sie sollten wirklich zur Kur gehen«, sagt Stave erschrocken.
»Die Kur, die bei Lungenkrebs hilft, muss erst noch erfunden werden«, keucht Czrisini und verzerrt seine bläulichen Lippen zu einer Grimasse, die den Oberinspektor weniger an ein Lächeln erinnert als an die Züge des Toten, die er soeben im Kühlraum gesehen hat.
»Tut mir leid, das zu hören«, stammelt er. Er kommt sich vor wie in einem absurden Traum. Es erscheint ihm würdelos, fast beiläufig in einem schummrigen, schmutzigen Treppenhaus vom Todesurteil eines Mannes zu erfahren, der ihm beinahe so etwas wie ein Freund ist.
»Das ist der Preis der englischen Zigaretten«, stößt der Rechtsmediziner hervor und zwingt sich die nächsten Stufen hoch.
»Vielleicht gibt es in England oder Amerika neue Behandlungsmethoden?«,
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