Der Faenger im Roggen - V3
ob er denke, daß Judas - der Christus
verriet und so weiter - nach seinem Selbstmord in die Hölle gekommen sei. Childs sagte, das
meine er allerdings. In diesem Punkt war ich absolut anderer Ansicht. Ich sagte, ich würde
tausend Dollar wetten, daß Christus diesen Judas nicht in die Hölle geschickt hätte. Das würde
ich heute immer noch wetten, wenn ich tausend Dollar hätte. Jeder von den Jüngern hätte ihn in
die Hölle geschickt - und zwar ohne Umschweife -, das glaube ich wohl, aber Christus ganz
sicher nicht. Childs sagte, mein Fehler sei eben, daß ich nicht in die Kirche ginge. Damit
hatte er in einer Art recht. Ich gehe nie in die Kirche. Meine Eltern gehören verschiedenen
Konfessionen an, und alle Kinder in unserer Familie sind Atheisten. Falls jemand die ganze
Wahrheit wissen will, so muß ich sagen, daß ich Geistliche nicht leiden kann. In jeder Schule,
in der ich war, hatten die Geistlichen immer so eine salbungsvolle Stimme, wenn sie mit ihrer
Predigt anfingen. Das finde ich unerträglich. Ich verstehe nicht, warum zum Teufel sie nicht
mit ihren natürlichen Stimmen sprechen können. Es klingt so unecht. Jedenfalls konnte ich also
kein Wort beten, als ich im Bett lag. Wenn ich anfangen wollte, fiel mir immer diese Sunny ein,
wie sie »komischer Vogel« zu mir gesagt hatte. Schließlich setzte ich mich auf und rauchte
wieder eine Zigarette. Sie schmeckte abscheulich. Ich hatte wohl gut zwei Päckchen geraucht,
seit ich von Pencey fortgegangen war.
Während ich dalag und rauchte, klopfte plötzlich jemand an die Tür. Zuerst hoffte ich noch, daß
es nicht an meiner Tür sei, obwohl ich ganz sicher war. Ich weiß nicht warum, aber jedenfalls
war ich ganz sicher. Ich wußte auch, wer es war. Ich habe einen sechsten Sinn.
»Wer ist da?« fragte ich. Ich hatte ziemlich Angst. Ich bin in solchen Sachen sehr feig.
Daraufhin klopfte es nur noch lauter.
Schließlich ging ich hin, nur im Pyjama, und machte die Tür auf. Das Licht brauchte ich gar
nicht anzudrehen, weil es schon taghell war. Sunny und Maurice standen vor der Tür.
»Was ist los? Was wollen Sie?« fragte ich. Herr im Himmel, meine Stimme zitterte wie
toll.
»Weiter nichts«, sagte Maurice. »Nur fünf Dollar.« Er führte das Gespräch für beide. Sunny
stand nur mit offenem Mund daneben.
»Ich hab schon bezahlt. Ich hab ihr fünf Dollar gegeben. Fragen Sie sie«, sagte ich. Immer mit
dieser zitternden Stimme.
»Es kostet zehn, Chef. Das hab ich Ihnen gesagt. Zehn für einmal, fünfzehn bis mittags, hab ich
gesagt.«
»Das haben Sie nicht gesagt. Fünf für einmal haben Sie gesagt. Fünfzehn bis mittags, das
stimmt, aber ich habe deutlich gehört -«
»Lassen Sie uns herein, Chef.«
»Warum?« sagte ich. Großer Gott, mein Herz jagte mich fast zum Zimmer hinaus. Wenn ich nur
wenigstens angezogen gewesen wäre. Schrecklich, nur so im Pyjama dazustehen, wenn so etwas
passiert.
»Los, Chef«, sagte Maurice. Dann gab er mir einen Stoß mit seiner dreckigen Hand. Ich wäre
beinah umgefallen - er war ein riesenhafter Mensch. Im nächsten Augenblick waren er und Sunny
schon im Zimmer. Sie benahmen sich, als ob sie zu Hause wären. Sunny setzte sich aufs
Fensterbrett. Maurice nahm im Sessel Platz und machte seinen Kragen auf - er hatte eine Livree
an.
Ich war blödsinnig nervös.
»Los, heraus damit. Ich muß wieder an meine Arbeit.«
»Ich habe Ihnen schon zehnmal gesagt, daß ich Ihnen nichts mehr schuldig bin. Ich habe ihr
schon fünf-«
»Dummes Zeug. Her damit.«
»Warum sollte ich ihr noch einmal fünf Dollar geben?« sagte ich. Meine Stimme zitterte immer
blödsinniger. »Sie wollen mich betrügen.«
Maurice knöpfte seine Livreejacke auf. Darunter trug er nur einen Hemdkragen, aber kein Hemd
oder sonst etwas. Er hatte einen fetten, behaarten Bauch. »Kein Mensch betrügt hier jemand.
Heraus damit.«
»Nein.«
Als ich das sagte, stand er auf und kam auf mich zu. Er machte ein Gesicht, als ob er furchtbar
müde wäre oder sich furchtbar langweilte. Ich bekam Angst. Ich verschränkte die Arme. Daran
erinnere ich mich noch. Es wäre sicher weniger schlimm gewesen, wenn ich nicht nur diesen
verdammten Pyjama angehabt hätte.
»Her damit.« Er stellte sich vor mich hin. Das war alles, was ihm einfiel. »Her damit.« Er war
ein richtiger Idiot.
»Nein.«
»Dann muß ich wohl mit einer kleinen Tracht Prügel nachhelfen. Ich tu's nicht gern, aber es ist
wohl nötig. Sie sind uns fünf Dollar schuldig.«
»Nichts
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