Der Faenger im Roggen - V3
schwierig, das Zimmer mit jemandem zu teilen, der schlechte Koffer hat - wenn man
wirklich teure Koffer hat und der andere billige, meine ich. Man denkt zuerst, wenn der andere
intelligent ist und Humor hat, müßte es ihm gleichgültig sein, wem die besseren Koffer gehören,
aber das ist nicht so.
In Wirklichkeit macht es ihm sehr viel aus. Das ist einer der Gründe, warum ich mit einem so
blöden Esel wie Stradlater im gleichen Zimmer wohnte. Wenigstens waren seine Koffer so gut wie
meine.
Diese zwei Nonnen also saßen neben mir, und wir kamen irgendwie ins Gespräch. Die eine hatte so
einen Korb bei sich, wie man ihn manchmal bei Nonnen und Heilsarmeeleuten sieht, wenn sie um
Weihnachten damit Geld sammeln. Sie stehen dann an den Straßenecken, vor allem in der Fifth
Avenue vor den großen Geschäften. Kurzum, diese Nonne ließ ihren Korb fallen, und ich bückte
mich und hob ihn auf. Ich fragte, ob sie auch für wohltätige Zwecke und so weiter Geld sammle.
Sie sagte nein.
Sie sagte, sie habe in ihrem Koffer nur keinen Platz mehr für den Korb gehabt, deshalb trage
sie ihn. Sie lächelte sehr nett, wenn sie einen anschaute. Sie hatte eine große Nase und eine
von diesen Brillen mit Metallgestell, die nicht gerade schön sind, aber ihr Gesicht war
verdammt lieb.
»Ich dachte, wenn Sie eine Geldsammlung machten, könnte ich einen kleinen Betrag geben«, sagte
ich. »Sie könnten das Geld ja behalten, bis Sie eine Sammlung machen.«
»Das ist aber sehr freundlich von Ihnen«, sagte sie, und die andere schaute zu mir herüber. Die
andre las in einem schwarzen Büchlein, während sie ihren Kaffee trank. Es sah ähnlich wie eine
Bibel aus, war aber zu dünn für eine Bibel.
Jedenfalls war es aber ein bibelartiges Buch. Beide aßen nur Toast und Kaffee zum Frühstück.
Das deprimierte mich. Ich kann es nicht leiden, wenn ich Speck mit Eiern oder ich weiß nicht
was esse und jemand anderer nur Toast und Kaffee hat.
Sie nahmen zehn Dollar von mir an. Dabei fragten sie mich fortwährend, ob ich sicher sei, daß
ich mir das leisten könne und so. Ich sagte, ich hätte ziemlich viel Geld bei mir, aber
offenbar glaubten sie mir nicht recht. Schließlich nahmen sie es dann doch. Beide dankten mir
so, daß es peinlich war.
Ich lenkte das Gespräch auf allgemeine Themen und fragte, wohin sie reisten. Sie sagten, sie
seien Lehrerinnen und kämen gerade von Chicago, und jetzt führen sie in eine Klosterschule in
der 168th Street oder 186th Street oder sonst irgendwo weit draußen in New York. Die mit der
Stahlbrille sagte, sie unterrichte Englisch, und ihre Kollegin unterrichte Geschichte und
amerikanische Verfassung. Ich dachte darüber nach, was wohl die Englischlehrerin - da sie eine
Nonne war - von manchen Büchern hielt, die sie für den Unterricht lesen mußte.
Ich meine nicht unbedingt Bücher mit einem Haufen Sex darin, aber überhaupt Bücher mit
Liebespaaren. Zum Beispiel diese Eustacia Vye in Der Heimgekehrte von Thomas Hardy - sie
war ja nicht sexy oder so, aber man muß sich doch fragen, was sich eine Nonne denkt, wenn sie
von dieser Eustacia liest. Natürlich sagte ich nichts davon. Ich sagte nur, Englisch sei mein
bestes Fach.
»Wirklich? Das freut mich aber!« sagte die mit der Brille, die Englisch unterrichtete. »Was
haben Sie dieses Jahr gelesen? Das interessiert mich sehr.« Sie war wirklich nett.
»Ach, hauptsächlich haben wir die Anglosachsen durchgenommen. Beowulf und den alten Grendel.
Und Lord Randall, mein Sohn und alles das. Aber wir müssen auch manchmal andere Bücher lesen.
Ich habe Der Heimgekehrte von Thomas Hardy gelesen, und Romeo und Julia und Julius -«
»Ach, Romeo und Julia! Wie schön! Hat Ihnen das nicht sehr gefallen?« Sie benahm sich
wahrhaftig nicht wie eine Nonne.
»Doch, sehr. Ich habe es sehr gern gelesen. Ein paar Stellen haben mir zwar nicht so gefallen,
aber im ganzen ist es sehr eindrucksvoll.«
»Was hat Ihnen nicht gefallen? Erinnern Sie sich noch daran?«
Ehrlich gesagt war es eigentlich peinlich, mit ihr über Romeo und Julia zu sprechen. Ich meine,
manche Stellen in diesem Stück sind doch ziemlich sexy, und sie war ja eine Nonne. Aber da sie
mich fragte, erklärte ich es ihr näher. »Ich bin überhaupt nicht übermäßig begeistert von Romeo
und Julia«, sagte ich.
»Natürlich gefallen sie mir, aber - ich weiß nicht. Manchmal ärgert man sich über die beiden.
Ich meine, es hat mir viel mehr leid getan, daß Mercutio getötet wird,
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