Der Faenger im Roggen - V3
immer nur dazu, daß
man deprimiert wird.
15. Kapitel
Nach dem Frühstück war es ungefähr zwölf Uhr, und da ich Sally erst um zwei treffen mußte,
machte ich einen langen Spaziergang. Ich dachte immer noch an die beiden Nonnen und an diesen
alten Korb, mit dem sie Geld sammeln gingen, wenn sie nicht unterrichteten. Ich versuchte mir
meine Mutter oder meine Tante oder Sally Hayes' verrückte Mutter vorzustellen, wie sie vor
einem Geschäft stehen und mit einem alten Korb Geld für arme Leute sammeln würden. Das konnte
man sich kaum ausdenken. Mit meiner Mutter war es nicht so unmöglich, aber die beiden andern!
Meine Tante tut ziemlich viel für Wohltätigkeitszwecke - für das Rote Kreuz und so -, aber sie
ist sehr elegant und braucht Lippenstift und lauter solchen Mist. Ich könnte sie mir bei keinem
wohltätigen Unternehmen vorstellen, wenn sie dabei schwarze Kleider anhaben müßte und sich
nicht schminken dürfte. Und Sally Hayes' Mutter - Jesus Christus. Sie könnte nur unter der
Bedingung mit einem Korb sammeln, daß alle ihre Füße küssen, die etwas beisteuern. Wenn die
Leute einfach nur Geld in ihren Korb werfen würden und dann weitergingen, ohne mit ihr zu
sprechen, ohne sie zu beachten, hätte sie spätestens nach einer Stunde genug davon. Sie würde
sich langweilen. Sie würde ihren Korb abgeben und dann in irgendeinem feinen Restaurant zu
Mittag essen. Das hatte mir an den Nonnen gefallen. Es war zum Beispiel ganz klar, daß sie nie
in irgendein feines Restaurant gingen. Aber gerade das machte mich verdammt traurig, als ich
daran dachte - daß sie nie zum Lunch in ein feines Restaurant gingen. Ich wußte wohl, daß es
nicht wichtig war, aber es machte mich trotzdem traurig.
Ich schlug die Richtung zum Broadway ein, weil ich seit Jahren nicht mehr dort gewesen
war.
Außerdem suchte ich ein Geschäft für Grammophonplatten, das am Sonntag offen wäre. Ich wollte
für Phoebe eine Platte kaufen, die Little Shirley Beans hieß. Die Platte war schwer zu
bekommen.
Das Lied handelte von einem kleinen Mädchen, das nicht aus dem Haus gehen wollte, weil ihre
beiden Schneidezähne ausgefallen waren und sie sich schämte. Ich hatte es in Pencey gehört.
Einer im unteren Stock hatte die Platte, und ich hatte sie ihm abkaufen wollen, weil ich wußte,
daß sie Phoebe furchtbar gefallen würde, aber er wollte sie nicht hergeben. Es war eine ganz
alte, wirklich tolle Platte von der Negersängerin Estell Fletcher, ungefähr vor zwanzig Jahren
aufgenommen. Sie singt es ganz auf die Dixielandtour und hurenhaft, und es klingt überhaupt
nicht sentimental; wenn eine Weiße es singen würde, würde es verdammt albern klingen. Aber
diese Estell Fletcher wußte genau, wie sie es machen mußte, und es war eine der besten Platten,
die ich je gehört habe. Ich dachte, ich könnte sie in irgendeinem Geschäft kaufen und dann in
den Central Park mitnehmen.
Sonntags fährt Phoebe oft im Park Rollschuh. Ich wußte genau, wo sie sich meistens
herumtrieb.
Es war nicht mehr so kalt wie am Samstag, aber die Sonne schien immer noch nicht, es war kein
schönes Wetter für einen Spaziergang. Aber auf dem Weg sah ich etwas Nettes. Eine Familie, die
offenbar gerade aus irgendeiner Kirche kam, ging vor mir her - ein Vater, eine Mutter und ein
ungefähr sechsjähriger Junge. Sie sahen eher ärmlich aus. Der Vater hatte so einen perlgrauen
Hut auf dem Kopf, wie ihn arme Leute oft tragen, wenn sie elegant sein wollen. Er und seine
Frau gingen einfach entlang und schwätzten. Sie kümmerten sich nicht um den Kleinen. Der Junge
war toll. Der lief nicht auf dem Trottoir, sondern auf der Straße, aber dicht am Randstein. Er
tat so, als ob er in einer schnurgeraden Linie marschierte, so wie die Kinder das gern tun, und
dabei sang und summte er immer. Ich ging näher zu ihm, um zu hören, was er sang. Es war das
Lied »Wenn einer einen andern fängt, der durch den Roggen läuft«. Er hatte eine hübsche kleine
Stimme. Er sang einfach, weil es ihm Spaß machte. Die Autos sausten vorbei, Bremsen kreischten,
seine Eltern kümmerten sich nicht um ihn, und er marschierte weiter am Rinnstein entlang und
sang: »Wenn einer einen andern fängt, der durch den Roggen läuft«. Das tat mir gut. Danach war
ich nicht mehr so deprimiert.
Am Broadway war es voll und ungemütlich. Es war Sonntag und erst zwölf Uhr, aber das Gedränge
war doch schon sehr dicht. Alle Leute strebten ins Kino - ins Paramount oder Astor
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