Der Faenger im Roggen - V3
man das sagt, er habe einen Minderwertigkeitskomplex. Vielleicht hat er
tatsächlich einen, aber meiner Ansicht nach kann er deshalb doch ein gemeiner Hund sein. Man
weiß nie, wie die Mädchen urteilen. Einmal verschaffte ich einem Freund ein Rendezvous mit dem
Mädchen, das im gleichen Zimmer mit Roberta Walsh wohnte. Er hieß Bob Robinson und hatte
wirklich einen Minderwertigkeitskomplex. Man merkte deutlich, daß er sich schämte, weil seine
Eltern ungebildet waren und mir und mich verwechselten und so und nicht viel Geld hatten. Er
war aber durchaus kein gemeiner Esel oder etwas in der Art. Er war sogar sehr nett. Aber dieses
Mädchen fand ihn unsympathisch. Sie sagte zu Roberta, er sei eingebildet. Und der Grund war
nur, daß er ihr zufällig erzählt hatte, er leite die Schülerdebatten. Eine solche Kleinigkeit,
und schon hielt sie ihn für eingebildet! Wenn die Mädchen jemand gern haben, ganz gleich, was
für ein Mensch es ist, sagen sie eben, er habe einen Minderwertigkeitskomplex, und wenn sie ihn
nicht gern haben, ganz gleich wie nett er ist oder wie groß sein Minderwertigkeitskomplex ist,
dann behaupten sie, er sei eingebildet. Sogar die hellsten Mädchen sind so.
Ich läutete also wieder bei Jane an, aber da niemand antwortete, mußte ich wieder einhängen.
Dann blätterte ich in meinem Notizbuch, um jemand zu finden, der für den Abend frei wäre. Dumm
war nur, daß höchstens drei Adressen darin standen. Nämlich Jane, zweitens Mr. Antolini, den
ich in Elkton Hills als Lehrer gehabt hatte, und drittens die Büronummer von meinem Vater. Ich
vergesse immer, mir die Namen aufzuschreiben. Deshalb rief ich schließlich Carl Luce an. Er
hatte in Whooton das Abschlußexamen gemacht, nachdem ich dort ausgetreten war. Er war ungefähr
drei Jahre älter als ich und nicht besonders sympathisch, aber er war schon damals ein
richtiger Intellektueller - er schnitt in Whooton mit den besten Noten von allen ab, und ich
dachte, vielleicht könnten wir irgendwo zu Abend essen und eine Art intellektuelle Konversation
machen. Manchmal war er sehr anregend. Jetzt ging er auf die Columbia-Universität, aber er
wohnte in der Fünfundsechzigsten Straße, und ich wußte, daß er zu Hause war.
Als ich ihn am Telefon erwischte, sagte er, essen könne er nicht mit mir, aber er wolle mich um
zehn Uhr in der Wicker Bar treffen. Er war ziemlich erstaunt, daß ich mich bei ihm meldete,
glaube ich. Ich hatte ihn einmal einen dickarschigen Heuchler genannt.
Bis zehn Uhr blieb mir noch viel Zeit totzuschlagen. Deshalb ging ich ins Kino. Wahrscheinlich
hätte ich kaum etwas Dümmeres tun können, aber Radio City war gerade in der Nähe, und ich hatte
keinen anderen Einfall.
Ich kam hinein, als die verdammte Bühnennummer in Gang war. Die Rockettes tanzten wie besessen,
alle in einer Reihe, jede mit den Armen um die Taille ihrer beiden Nachbarinnen.
Die Zuschauer applaudierten begeistert, und ein Mann hinter mir sagte fortwährend zu seiner
Frau: »Weißt du, was das ist? Das ist Präzision.« Zum Platzen. Nach den Rockettes kam ein
Rollschuhläufer und sauste unter kleinen Tischen herum, und dabei gab er Witze zum besten. Er
lief sehr gut Rollschuh, aber der Gedanke störte mich, daß er besonders üben mußte, um auf der
Bühne Rollschuh zu laufen. Das fand ich so unsinnig.
Vermutlich war ich nur nicht in der richtigen Stimmung.
Danach fing die Weihnachtsnummer an, die in diesem Kino jedes Jahr gegeben wird. Von überallher
erscheinen Engel, Kruzifixe werden herumgetragen, und alle Darsteller singen wie toll: »Auf,
gläubige Seelen!« Das soll höllisch religiös sein, ich weiß, und außerdem noch schön, aber ich
kann bei Gott nichts Religiöses oder Schönes daran finden. Ich sehe nur einen Haufen
Schauspieler, die Kruzifixe über die Bühne schleppen.
Als sie endlich fertig waren und wieder in den Kulissen verschwanden, hatte man den Eindruck,
daß sie kaum abwarten konnten, bis sie eine Zigarette rauchen durften oder was weiß ich. Ich
hatte die Nummer im letzten Jahr mit Sally Hayes gesehen, und sie schwärmte davon, wie schön es
sei, die Kostüme und alles. Ich sagte, der gute Jesus würde wohl das Kotzen kriegen, wenn Er
das sehen könnte, diese Phantasiekostüme und das ganze Zeug.
Sally sagte, ich sei ein gottlästernder Atheist. Vermutlich bin ich das. Was Christus wirklich
gefallen hätte, wäre der Paukenschläger im Orchester gewesen. Ich hatte ihm schon zugesehen,
als ich erst
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