Der Faenger im Roggen - V3
acht Jahre alt war. Mein Bruder Allie und ich pflegten von unseren Plätzen
aufzustehen und nach vorn zu laufen, wo wir ihn gut sehen konnten. Er ist der beste
Paukenschläger, den ich je erlebt habe. Er kommt im ganzen Stück nur wenige Male dran, aber er
sieht nie gelangweilt aus, wenn er nichts zu tun hat. Wenn er dann aber schlagen muß, macht er
das so nett und liebevoll, mit einem ängstlichen Gesicht. Als wir einmal mit meinem Vater nach
Washington fuhren, schickte ihm Allie eine Postkarte, aber sicher hat er sie nie bekommen. Wir
wußten nicht recht, was wir als Adresse schreiben sollten.
Nach der Weihnachtsnummer fing endlich dieser verdammte Film an. Er war so ekelhaft, daß man
kaum die Augen davon abwenden konnte. Ein junger Engländer, Alec Soundso, kommt aus dem Krieg
und verliert im Spital das Gedächtnis. Nach seiner Entlassung hinkt er an seinem Stock durch
ganz London und weiß nicht, wer zum Teufel er ist. In Wirklichkeit ist er ein Herzog, aber er
weiß es nicht. Dann trifft er im Omnibus ein nettes, häusliches, aufrichtiges Mädchen. Der Hut
fliegt ihr davon, er langt ihn auf, und dann klettern sie in den oberen Stock hinauf und
vertiefen sich in ein Gespräch über Charles Dickens. Beide haben eine besondere Vorliebe für
Dickens.
Alec hat das Buch Oliver Twist bei sich, und das Mädchen ebenfalls. Ich hätte kotzen
können. Beide verlieben sich sofort ineinander, weil sie dermaßen in Dickens vernarrt sind, und
Alec hilft dem Mädchen in ihrem Verlag. Das Mädchen ist nämlich Verlegerin. Nur macht sie keine
glänzenden Geschäfte, weil ihr Bruder die gesamten Einnahmen vertrinkt. Dieser Bruder ist
verbittert, weil er im Krieg Chirurg war und jetzt nicht mehr operieren kann, weil seine Nerven
kaputt sind.
Deshalb trinkt er die ganze Zeit, aber er ist wenigstens recht geistreich. Dann schreibt Alec
ein Buch, und das Mädchen veröffentlicht es in ihrem Verlag, und beide verdienen einen Haufen
Geld. Sie wollen gerade heiraten, als Marcia auftaucht.
Marcia war mit Alec verlobt, bevor er das Gedächtnis verlor, und sie erkennt ihn, als er in
einer Buchhandlung seine Bücher signiert. Sie teilt Alec mit, daß er ein Herzog ist, aber er
glaubt ihr nicht und weigert sich, mit ihr seine alte Mutter zu besuchen.
Seine Mutter ist blind wie eine Fledermaus. Aber das andere, häusliche Mädchen bewegt ihn zu
guter Letzt dazu. Sie ist äußerst edel. Er geht also dorthin, aber sein Gedächtnis rührt sich
auch dann noch nicht, als seine dänische Dogge an ihm heraufspringt und die Mutter sein ganzes
Gesicht befingert und ihm den Teddybär bringt, mit dem er als Kind gespielt hatte.
Eines Tages aber spielen ein paar Kinder Kricket auf einer Wiese und treffen ihn mit dem
Kricketball am Kopf. In diesem Augenblick erinnert er sich wieder an alles und läuft nach Hause
und küßt seine Mutter auf die Stirn und so weiter. Von da an ist er wieder ein regelrechter
Herzog und vergißt das häusliche Mädchen mit dem Verlag. Ich würde gern weitererzählen, wenn
ich mich dann nicht höchstwahrscheinlich übergeben müßte. Ich würde die Geschichte nicht so
erzählen, daß ich sie jemandem verderbe. Man kann nichts daran verderben, Herr im Himmel.
Kurzum, am Schluß heiraten Alec und das häusliche Mädchen, und der Alkoholikerbruder wird
wieder gesund und operiert Alecs Mutter, so daß sie wieder sehen kann, und dann kriegen sich
der betrunkene Bruder und die gute Marcia. Zuletzt sitzen alle an einer langen Tafel und
bersten vor Lachen, weil die dänische Dogge mit einem Haufen Junge hereinkommt.
Offenbar hatte jedermann diese Dogge für ein Männchen gehalten oder sonst einen verdammten
Blödsinn gedacht. Ich kann nur jeden vor diesem Film warnen, der sich nicht danach sehnt, sich
von oben bis unten zu bekotzen.
Was mich vollends erledigte, war eine Dame neben mir, die vom Anfang bis zum Schluß Tränen
vergoß. Je unechter es zuging, um so mehr heulte sie. Man hätte meinen können, daß sie
furchtbar gutherzig sei, aber das war sie durchaus nicht.
Neben ihr saß ein kleiner Junge, der sich tödlich langweilte und auf die Toilette mußte, aber
sie wollte nicht mit ihm hinausgehen. Sie sagte immer nur, er solle sich still halten und sich
anständig benehmen. Sie war ungefähr so gutherzig wie ein Wolf.
Von den Leuten, die sich über verlogenes Kinozeug ihre verdammten Augen aus dem Kopf heulen,
sind neunzig Prozent im Grund herzlose Klötze. Ganz im Ernst.
Nach dem Film
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