Der Fänger
dieser Mensch sie unter Kontrolle halten wollte, denn der Griff seiner Finger war wenig zärtlich, sondern eher hart, als wollte er sie nie mehr loslassen.
Das Haus mit der grauen Fassade und den hohen Fenstern kam ihr abweisend vor. Nichts bewegte sich in der Nähe, und selbst durch die Scheiben konnte sie nicht schauen. Je näher sie kam, umso düsterer wurde die Bedrohung, und sie hätte am liebsten kehrt gemacht. Aber dafür fand sie nicht die Kraft.
»Das ist kein Hotel«, flüsterte sie.
»Was sagst du?«
»Schon gut.«
»Du kannst dich gleich erst mal ausruhen, Raissa«, versprach Sartow. »Du bekommst ein eigenes Zimmer und kannst ein Bad oder eine Dusche nehmen und dich hinlegen. Wanda Rice wird erst am Abend hier eintreffen, sie hat tagsüber einfach zu viel zu tun. Sie wird mit dir sprechen, und es wird dabei auch um die Aufnahmen morgen gehen. Diese sind sehr wichtig. Die Fotos müssen sitzen, denn sie sind der Einstieg für die Zukunft. Nur durch sie kann dir das Tor weit geöffnet werden.«
Raissa gab keine Antwort. Als sie vor der Haustür stehen blieben, spürte sie einen Schauer, der ihren Rücken hinabglitt. Sie hatte feuchte Handflächen bekommen. Der Mantel kam ihr plötzlich so dünn wie eine löchrige Strickjacke vor.
Niemand kam, um die Tür zu öffnen. Keiner wollte ihr die Tasche abnehmen. Um sich als Gast bemerkbar zu machen, musste geklingelt werden, was Igor auch tat. Zu hören war nichts, und so warteten die beiden ab, bis sich etwas rührte.
Langsam schwang die schwere Tür nach innen. Die Bewegung wurde begleitet von Raissa’s starkem Herzklopfen. Ihr Mund war plötzlich trocken geworden, und sie atmete nur durch die Nase.
Endlich war der Weg frei in einen Flur. Er war recht dunkel. Holz an den Wänden, und eine Schattengestalt, die sie erwartete. Jetzt hätte sie die letzte Chance gehabt, zu fliehen, einfach umdrehen und weglaufen. Doch Igor schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn er drückte ihr die Hand gegen den Rücken und schob sie über die Schwelle.
Sie trat einen Schritt vor. Sie wollte nicht, aber sie tat es trotzdem. Sie atmete schwer und hatte das Gefühl, als würde ihre Kehle brennen. Den Mann, der ihnen die Tür geöffnet hatte, nahm sie kaum wahr. Sie registrierte auch nicht, dass die Tür hinter ihr geschlossen wurde. In der Nähe stand eine schlichte Bank, auf die sie sich setzen musste.
»Man wird sich um dich kümmern«, versprach Igor, bevor er sich zurückzog und sie ganz allein ließ.
Raissa tat nichts. Verkrampft blieb sie hocken. Sie hörte, wie die beiden Männer miteinander flüsterten, dann wurde die Tür wieder geöffnet und Igor verschwand.
Sie traute ihm nicht mehr. Doch jetzt, so völlig allein in der Fremde, wünschte sie sich ihn an ihre Seite. Stattdessen war da der Fremde, der auf sie zukam und vor ihr stehen blieb.
Es handelte sich um einen Mann mit grauen Haaren. Sehr muskulös. Er trug ein T-Shirt und eine Lederhose. Sein Gesicht sah aus, als wäre es gemeißelt worden.
»Ich bringe dich zu deinem Zimmer«, erklärte er.
Er hatte russisch mit ihr gesprochen. Das löste bei Raissa einen Funken der Freude aus.
»Wohin?«, fragte sie.
Er deutete stumm gegen die Decke.
Sie gingen durch eine weite Halle und anschließend eine Treppe hinauf. Breite Stufen aus dunklen, kalten Steinen. Nichts war zu hören. Raissa sah auch keinen anderen Menschen und kam sich vor wie in einem Totenhaus.
Alarmiert erkannte die junge Frau, dass dieses Haus nicht ihre neue Heimat werden würde. Es war eine Falle!
Ihr Herz klopfte schneller. Das Blut stieg ihr ins Gesicht. Sie fing an zu schwitzen, und jetzt dachte sie wieder an die Berichte, die auch bis nach Russland gedrungen waren. Artikel über junge Frauen, denen man so viel versprochen hatte und die letztendlich in den düsteren Absteigen und Bordellen verschwunden waren, ohne eine Chance zu haben, aus eigener Kraft freizukommen.
Geknechtet, vergewaltigt, geschlagen. Behandelt wie Vieh. Ohne Rechte.
Im ersten Stock brach ihr Begleiter sein Schweigen. »Wir sind gleich da.«
»Aber das hier ist doch kein Hotel!« Sie hatte es einfach sagen müssen. Es war aus ihr herausgeplatzt.
»Meinst du?«
»Ja, ich...«
»Sieh es einfach als Hotel an«, riet er.
»Und was passiert mit mir?«
»Wir sind da«, sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.
Sie zupfte den Mann am Ärmel. »Bitte, was passiert mit mir? Was ist hier los?«
Das Betongesicht drückte die Tür auf, die nicht abgeschlossen war.
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