Der Falke des Nordens
…”
“Wir haben drei Stunden Flug vor uns. Ruhen Sie sich etwas aus”, unterbrach er sie ungerührt.
“Das wird Folgen haben!”
Khalil stemmte die Hände in die Hüften und schaute Joanna kühl an. Ihr sank der Mut, und sie dachte, wie dumm sie doch gewesen war, nicht gleich zu erkennen, wen sie vor sich hatte.
“Die Dinge nehmen nun ihren Lauf”, sagte er.
Joanna musterte ihn sekundenlang. Seine Miene wirkte grausam und unnachgiebig. Dann setzte sie sich hin und schaute wie blind aus dem Fenster, während das Flugzeug über die sandige Piste raste und schließlich in den schwarzen Nachthimmel abhob.
Er hatte recht, es war geschehen. Ihr blieb nur noch die Hoffnung, dass man sie bald befreien würde.
4. KAPITEL
Das ergab alles keinen Sinn. Joanna saß reglos da und versuchte verzweifelt, Antworten auf die vielen Fragen zu finden. Die ganze Sache erschien ihr so rätselhaft wie eine Sphinx.
Warum hatte Khalil sie in dem Glauben gelassen, er sei Hassan? Er hätte sich in dem Augenblick zu erkennen geben können, als er entdeckte, dass es keinen Joe Bennett gab.
Und wohin brachte er sie nun? Sie schaute auf das Leuchtzifferblatt ihrer Uhr. Inzwischen waren sie bereits über eine Stunde unterwegs, und es gab keine Anzeichen dafür, dass sie bald irgendwo landen würden. Ihr schauderte. Nein, dachte sie, das ist ganz gewiss kein kurzer Ausflug. Offenbar entfernten sie sich immer weiter von Casablanca.
Und die nächste Frage, die sich ihr stellte und die sie am liebsten, erschöpft, wie sie war, verdrängt hätte, war, warum er sie überhaupt entführte.
Als das Flugzeug in ein Luftloch absackte, nutzte sie die Gelegenheit und spähte durch den Vorhang, der den winzigen Raum, in dem sie untergebracht war, von dem übrigen Passagierraum trennte. Khalil war kurz nach dem Start ins Cockpit gegangen und hatte sie mit einem Mann in einem langen Gewand allein gelassen, der sich in tiefes Schweigen hüllte. Dann schloss sie die Augen und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
“Ist Ihnen kalt?”
Erschrocken öffnete sie die Augen wieder – und sogleich verkrampfte sich ihr das Herz, denn vor ihr stand Khalil. Er hatte sich umgezogen und trug nun ein langes weißes Gewand, in dem er unglaublich gut aussah.
“Ist Ihnen kalt, Joanna?”
“Kalt?”, wiederholte sie und gab sich absichtlich verständnislos, denn sie brauchte einige Sekunden, um sich an sein verändertes Aussehen zu gewöhnen.
“Sie zittern ja. Kein Wunder bei diesem freizügigen Kleid.” Er bedachte sie mit einem verächtlichen Blick.
Joanna errötete. Am liebsten hätte sie das Oberteil des grünen Seidenkleids hoch- und den Rock heruntergezogen, doch diese Genugtuung gönnte sie ihm nicht. Stattdessen faltete sie ruhig die Hände im Schoß und schaute Khalil in die Augen. “Oscar de la Renta wäre enttäuscht, wenn ihm Ihr Urteil über sein Modellkleid zu Ohren käme, Hoheit. Er hat es allerdings nicht nach dem Geschmack eines hinterwäldlerischen Herrschers entworfen.”
Die Beleidigung saß. Khalil kniff die Augen zusammen. “Sie haben sicherlich recht, Joanna. Es dient hauptsächlich dem Zweck, einen Mann zu verführen und ihn alles vergessen zu lassen, sodass er sich nur noch auf den Preis konzentriert, der darin mehr oder weniger verborgen ist.” Er verzog den Mund zu einem Lächeln.
“Ich habe mich lediglich für das Dinner im Oasis-Restaurant angezogen. Hätten Sie mich rechtzeitig darüber informiert, dass wir eine Flugreise machen, hätte ich selbstverständlich etwas Passendes mitgenommen”, erwiderte sie kühl lächelnd.
“Hätte ich es Ihnen vorher gesagt, dann wären Sie gar nicht erst gekommen.”
Damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.
“Aber Sie frieren tatsächlich”, stellte er fest. “Es ist töricht, hier vor Kälte zitternd herumzusitzen, ohne um eine Decke zu bitten.”
“Ahmed!” Khalil schnippte mit den Fingern, und sogleich sprang der Mann auf, der im Gang gegenüber saß. Nachdem Khalil ihm etwas gesagt hatte, das sie nicht verstand, verneigte Ahmed sich und verschwand. “Ahmed holt Ihnen eine Decke, Joanna. Wenn Sie sonst noch etwas brauchen …”
“Nur meine Freiheit.”
“Wenn Sie sonst noch etwas brauchen”, wiederholte er ungerührt, “Kaffee oder Tee …”
“Hören Sie schlecht? Ich habe gesagt …”
Plötzlich rang sie nach Luft, denn er packte sie so fest an den Schultern, dass der Druck seiner Finger auf ihrer Haut schmerzte und sie die Wärme seines Körpers
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