Der Falke von Aryn
formte die Welt nach seinen Wünschen. Wie oft hatte er sie damals dazu gezwungen, mit ihm zu fahren, wenn er eines seiner Bauvorhaben besuchte. Ihr dann begeistert von seinen Plänen erzählt, um sie davon zu überzeugen, dass es wichtig war, solche Dinge zu tun, dass es den Menschen half und es ihm nicht um das Gold ging.
Das zumindest, dachte sie grimmig, hatte sie ihm geglaubt, es war zu deutlich zu erkennen, dass er dem keinen Wert zumaß. Er hatte ihr gesagt, dass er selbst nicht wusste, was ihn noch trieb, aber jetzt wusste sie, dass er sie belogen hatte. Er hatte noch immer das getan, was er damals ihrer Mutter versprochen hatte. Er hatte versucht, ihr zu zeigen, dass es andere Wege gab zu kämpfen – als nur mit Stahl. Sie hatte ihm nur nicht zugehört.
Noch etwas hatte ihr diese alte Erinnerung gezeigt. Dass auch Raphanael mit seinen harten Worten recht behalten hatte. Ihre Mutter hatte ihre Pflichten ernst genommen, vielleicht waren es genau diese gewesen, die sie hier nach Aryn und in den Tod geführt hatten. Und ihr Vater? Sie hatte oft hinter vorgehaltener Hand tuscheln hören, dass er ihre Mutter nur ihres Titels wegen geheiratet hätte und sie ihn nur seines Geldes wegen. So war es nicht gewesen. Sie mochte es vergessen haben, aber jetzt wusste sie es wieder besser. Keiner von ihnen hatte seine Pflichten gescheut.
Wie hatte Raphanael gesagt? Dass er alles dafür tun würde, damit es seiner Tochter in diesem Leben gut erging? Lorentha musste sich eingestehen, dass sie nicht die Einzige war, die etwas verloren hatte, ihr Vater hatte ihre Mutter an die Walküren und sie selbst an die Garda verloren, kein Wunder, dass er so erbittert darum gekämpft hatte. Es fiel ihr schwer, es sich einzugestehen, aber vielleicht lag Raphanael gar nicht so falsch mit dem, was er ihr vorgeworfen hatte. Vielleicht war ihre Flucht zur Garda in mehr als nur einer Hinsicht eine Flucht gewesen.
Das Erbe der Walküre
16 Als die Kutsche das Haus der Gräfin erreichte und sie die Treppe zur Eingangstür hinaufstieg, dachte Lorentha daran zurück, wie die Gräfin sie gefragt hatte, ob sie den Tod ihrer Mutter ruhen lassen könnte, ob sie denn imstande wäre, umzukehren und all das hinter sich zu lassen. Besessen hatte die Gräfin sie genannt.
Das musste, dachte Lorentha mit einem schwachen Lächeln, als Tobas ihr die Tür öffnete und sie willkommen hieß, in der Familie liegen. Aber zum ersten Mal dachte sie darüber nach, ob es nicht ein Fehler war.
Durch die nun frische Erinnerung an die Vorkommnisse dieser verhängnisvollen Nacht wusste sie, dass ihre Mutter sie mit ihrem letzten Atemzug noch hatte schützen wollen. Wäre sie hier, würde sie nicht wollen, dass Lorentha sich in Gefahr begab, um den Mord an ihr zu rächen. Aber sie würde es verstehen.
»Ihr seid spät«, teilte ihr die Gräfin missbilligend mit. »Und Ihr habt den Spitzenbesatz von Euren neuen Kleidern entfernen lassen!«
»Ja«, sagte Lorentha und begegnete dem vorwurfsvollen Blick der Gräfin unbewegt. »Keine Korsetts und keine Spitzen, keine Handschuhe und keine toten Vögel oder Nester an meinen Hüten. Keine Tanzstunden, kein Angriff auf meine Haare. Doch was immer Ihr mir sonst antun wollt, könnt Ihr jetzt tun.«
Während die Gräfin voranging und sie erneut daran erinnerte, dass es um Macht und Einfluss ging, fragte sich Lorentha, ob sie ihren Vater nicht auch in dieser Beziehung unterschätzt hatte. Sowohl vor als auch nach dem gescheiterten Versuch, sie in die Gesellschaft einzuführen, hatte er sich in derselben selbst nicht blicken lassen, vielleicht war sie ihm hierin einfach nur ähnlicher, als sie es beide dachten. Aber war es wirklich so, dass sich Einfluss nur auf solchen Bällen formen ließ? Und nur auf diese eine Art?
Lorentha blieb auf den Stufen stehen, die Gräfin ging noch drei Stufen weiter, bevor sie es bemerkte.
»Was ist mit Euch?«, fragte die Gräfin ungehalten. »Ist Euch noch etwas eingefallen, das Ihr nicht wollt?«
»Ich glaube«, sagte Lorentha langsam, »dass wir einen schlechten Anfang hatten. Führt man mich an der Leine, werde ich gerne störrisch … selbst wenn es der Weg ist, den ich vielleicht gehen sollte. Aber vielleicht gibt es noch andere Wege. Ihr sagt, Ihr wärt die Freundin meiner Mutter gewesen? Ging sie auch auf Bälle?«
»Ja, Kindchen«, sagte die Gräfin leise und kam die Stufen wieder herab, um eine Hand auf Lorenthas Arm zu legen. »Das tat sie. Ich sagte Euch doch schon, dass sie
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