Der Falke von Aryn
dieses Schlachtfeld auch beherrschte.«
»Cerline«, fragte Lorentha leise. »Wenn sie an meiner Stelle wäre, würde sie sich so von Euch führen lassen?«
Die Gräfin sah sie lange an und schüttelte leicht den Kopf. »Sie würde auf den Ball gehen«, sagte sie mit belegter Stimme. »Aber sie würde ihn beherrschen …«
»Wie?«, fragte Lorentha. »Welche Kleider würde sie tragen? Was würde sie tun? Besitzt Ihr Bilder von ihr, die sie so zeigen? Oder Entwürfe von den Kleidern, die sie damals trug, wie die, die die Schneiderin mir zur Auswahl vorlegte?«
»Ich habe etwas Besseres«, sagte die Gräfin rau. »Sie wohnte auch hier … und da Euer Vater nach ihrem Tod schrieb, dass er es nicht ertragen könne, an sie erinnert zu werden und nichts von dem wollte, was sie besaß, beließ ich ihr Zimmer, wie es war.« Sie holte tief Luft. »Ich … ich wollte es Euch noch zeigen, aber ich fürchtete, ach …«, seufzte sie. »Ich weiß nicht, was ich befürchtete. Vielleicht bin ich es, die Angst vor ihrem Geist hat. Ich habe sie schon lange nicht mehr besucht, und die Tür ist abgeschlossen, aber …«
»Holt den Schlüssel«, bat Lorentha sanft.
Als die Gräfin zögernd die Tür aufschloss und sie aufdrückte, schlug Lorentha stickige Luft entgegen und mit ihr ein längst vergessener Geruch. Die Gräfin betrat das Zimmer und zog überall die Vorhänge zurück, um die Abendsonne einzulassen, aber auch so wusste Lorentha, was sie sehen würde.
»Ihr habt mich angelogen«, sagte Lorentha rau. »Meine Mutter spielte das Spiel nicht so wie Ihr … und deshalb ist es auch falsch für mich. Und dort«, fügte sie hinzu und wies auf das unfertige Bild, das auf seiner Staffelei mitten im Raum stand, sodass es schien, als würde ihre Mutter sie mit einem Lächeln begrüßen, »ist der Beweis.«
Die Gräfin ließ den Vorhang fallen, den sie soeben ergriffen hatte, und drehte sich langsam um, um zuerst auf das Bild zu schauen und dann auf Lorentha. Schließlich weiteten sich ihre Augen.
»Nein«, hauchte sie. »Das könnt Ihr nicht tun! Es wäre wie ein Fehdehandschuh, und Ihr habt nicht das Recht dazu.«
»Das sehe ich anders«, sagte Lorentha und trat langsam über die Schwelle. Erinnerungen über Erinnerungen stürmten auf sie ein, aber diesmal ließ sie nicht zu, dass sie von ihnen übermannt wurde. Wie in Trance ging sie zu dem reich verzierten Schrank hin und zog die Türen auf. Der Geruch von Lavendel schlug ihr entgegen, dann fand sie, was sie suchte. »Warum denn nicht?«, fragte sie hart. »Manchmal ist eine Robe auch nur ein Kleid. Und wenn Ihr schon sagt, dass auf diesem Schlachtfeld mein Kleid meine Rüstung ist, dann weiß ich jetzt, wie ich mich wappnen werde. Und Ihr, Cerline«, fügte sie sanfter hinzu, »müsst mir dabei helfen.«
Die Gräfin schüttelte vehement den Kopf. »Es wäre wie eine Kriegserklärung. Der andere Weg ist sicherer und …«
»Dieser ist aber richtig für mich«, unterbrach Lorentha sie und lachte dann kurz und hart auf. »Seht es so«, fügte sie mit Blick auf das Gemälde ihrer Mutter hinzu, »wenn Ihr mir helft, lasse ich Euch sogar an mein Haar.«
Es war deutlich zu erkennen, wie sehr die Gräfin mit sich kämpfte, doch letztlich nickte sie. »Ihr macht unseren ganzen Plan zunichte, aber … gut, ich helfe Euch.«
Lorentha sah sich langsam im Zimmer ihrer Mutter um. Eigentlich waren es drei Zimmer, und jedes von ihnen hielt so viele Erinnerungen, dass sie sich wunderte, wie sie all das hatte vergessen können. Später, versprach sie sich. Später. Vielleicht mit Raphanaels Hilfe. Aber jetzt … sie trat vor das Bild ihrer Mutter.
»Cerline«, sagte sie, während ihr suchender Blick auf jeder Einzelheit des unfertigen Gemäldes verharrte. »Ihr sagtet, es wäre wie eine Kriegserklärung. Aber meint Ihr nicht auch, dass sie schon längst überfällig ist?«
»Bei der Göttin, ja, Kindchen«, antwortete die Gräfin, und obwohl sie noch immer ihre Hände rang, spielte jetzt doch ein Lächeln um ihre faltigen Lippen. »Doch wie fangen wir es an?«
»Wir halten uns im Groben an Euren Plan«, antwortete Lorentha. »Es gab nur einen Fehler darin. Ihr habt für mich gedacht.«
»Ich verstehe nicht …«
Lorentha lachte grimmig. »Ihr selbst habt mir den Ballsaal als ein Schlachtfeld beschrieben und dann nicht bedacht, dass ich in der Kriegskunst ausgebildet bin. Die Waffen mögen sich unterscheiden, doch in der Strategie macht es keinen Unterschied. Meine Mutter wusste
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