Der Fall Charles Dexter Ward
er mit einem erfahrenen Künstler wieder, nämlich mit Mr. Walter Dwight, dessen Atelier sich am Fuße des College Hill befindet; und dieser befähigte Restaurator ging sogleich mit den entsprechenden Methoden und chemischen Substanzen ans Werk. Der alte Asa und seine Frau wunderten sich gehörig über die sonderbaren Besucher und wurden für diese Störung ihrer häuslichen Ruhe angemessen entschädigt.
Während die Restaurierungsarbeiten Tag für Tag Fortschritte machten, sah Charles Ward mit wachsendem Interesse zu, wie die Linien und Farben, die so lange verborgen gewesen, nach und nach entschleiert wurden. Dwight hatte am unteren Bildrand begonnen; da es sich um ein Kniestück handelte, kam deshalb das Gesicht zunächst noch nicht zum Vorschein. Unterdessen sah man aber bereits, daß das Modell ein schlanker Mann von guter Figur, mit dunkelblauem Rock, Stickweste, schwarzen Seidenkniehosen und weißen Seidenstrümpfen war, der in einem geschnitzten Sessel vor einem Fenster saß, das den Blick auf Kaianlagen und Schiffe freigab. Als der Kopf hervortrat, stellte sich heraus, daß der Mann eine schmucke Albemarie-Perücke trug und schmale, ruhige, unauffällige Gesichtszüge hatte, die sowohl Ward als auch dem Künstler irgendwie bekannt vorkamen. Doch erst im allerletzten Augenblick hielten der Restaurator und sein Klient beim Anblick der Einzelheiten dieses hageren, bleichen Gesichtes erschrocken den Atem an und erkannten mit ehrfürchtigem Staunen, welch dramatischen Scherz die Vererbung sich hier geleistet hatte. Denn erst nach dem letzten Ölbad und dem letzten Strich mit dem feinen Schabmesser wurde der Gesichtsausdruck, den Jahrhunderte verborgen hatten, voll erkennbar; und erst in diesem Moment erkannte der verblüffte Charles Dexter Ward, Bewohner der Vergangenheit, daß er sein getreues Abbild in der Gestalt seines schrecklichen Urururgroßvaters vor sich hatte.
Ward holte seine Eltern, um ihnen das Wunder zu zeigen, das er aufgedeckt hatte, und sein Vater beschloß auf der Stelle, das Bild zu erwerben, obwohl es auf die stationäre Täfelung gemalt war. Die Ähnlichkeit mit dem jungen Mann war trotz des unverkennbar höheren Alters phantastisch; und es war nicht zu übersehen, daß durch einen launischen Atavismus die äußeren Züge des Joseph Curwen nach anderthalb Jahrhunderten ihr getreues Gegenstück erhalten hatten. Dagegen war Mrs. Wards Ähnlichkeit mit ihrem Vorfahren keineswegs genauso ausgeprägt, obschon sie sich an Verwandte erinnern konnte, die einige der Merkmale aufgewiesen hatten, die ihrem Sohn und dem verblichenen Joseph Curwen gemeinsam waren. Sie konnte der Entdeckung nicht recht froh werden und sagte ihrem Mann, er solle das Bild lieber verbrennen, anstatt es nach Hause zu schaffen. Sie behauptete, es sei ihr unheimlich, nicht nur das Bild als solches, sondern auch wegen der Ähnlichkeit mit Charles. Mr. Ward aber war ein praktisch veranlagter und einflußreicher Geschäftsmann Baumwolltuchfabrikant mit einer ansehnlichen Weberei in Riverpoint im Tal des Pawtuxet — und somit nicht der Mann, der auf weibliche Einwände gehört hätte. Das Bild beeindruckte ihn sehr durch die Ähnlichkeit mit seinem Sohn, und er glaubte, sein Sohn habe es als Geschenk verdient. Dieser Meinung schloß Charles Ward sich natürlich bereitwilligst an, und ein paar Tage später hatte Mr. Ward den Besitzer des Hauses ausfindig gemacht, einen kleinen Menschen mit dem Aussehen eines Nagetieres und einem gutturalen Akzent — und erwarb den ganzen Kaminsims einschließlich der Täfelung darüber zu einem kurzerhand abgemachten Preis, ohne es erst zu dem zu erwartenden schmierigen Gefeilsche kommen zu lassen.
Nun mußte nur noch die Täfelung abgenommen und in das Hausder Wards transportiert werden, wo man Vorbereitungen für die endgültige Restaurierung des Bildes und seine Anbringung über einem elektrischen Kamin in Charles' Arbeitsbibliothek im dritten Stock getroffen hatte. Die Aufgabe, den Transport zu überwachen, fiel Charles zu, und am achtundzwanzigsten August begleitete er zwei fachkundige Arbeiter der Dekorationsfirma Crooker zu dem Haus in Olney Court, wo der Kaminsims und die darüber befindliche Täfelung mit dem Porträt mit großer Sorgfalt abgenommen und zum Transport auf den firmeneigenen Lastwagen verladen wurden. Zurück blieb eine kahle Mauerfläche, die den Verlauf des Kamins markierte, und in dieser entdeckte der junge Ward eine würfelförmige Vertiefung von ungefähr einem Fuß
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