Der Fall Collini
dünn. Das hellblaue Kupferdach des Teehauses glänzte in der Sonne. Von der Spree hörten sie eine Lautsprecherstimmeaus einem Touristenboot. Die alte Frau saß jetzt auf einer Parkbank. Sie trug Handschuhe aus roter Wolle mit abgeschnittenen Fingern. Die Tüte mit dem Vogelfutter war leer.
Plötzlich blieb Johanna stehen und sah Leinen an. Zum ersten Mal bemerkte er eine kleine Narbe über ihrer rechten Augenbraue. »Mir ist kalt«, sagte sie. »Lass uns nach Hause gehen. Ich muss erst morgen zurück nach London.«
Leinen hatte die Wohnung schon als Referendar gemietet, er mochte nicht umziehen, der Platz reichte ihm. Zwei Zimmer, eine typische Berliner Altbauwohnung, gekalkte Wände, hohe Decken, Parkett, ein enges Bad. An fast allen Wänden standen Regale, auch sonst überall Bücher, sie lagen auf dem Boden, dem Sofa, den Stühlen, auf dem Rand der Badewanne. Johanna sah sich alles an. Der Kopf eines Buddhas aus Holz stand zwischen den Büchern. Es gab eine verrostete Speerspitze aus Ostafrika in einem anderen Regal, zwei Bleistiftzeichnungen hingen im Flur: der Obstgarten in Roßthal. Auf dem Fenster standen ein paar Fotografien: sein Vater mit grünem Hut, seine Mutter vor dem Forsthaus. In einem silbernen Rahmen ein halbes Dutzend junger Männer auf der Freitreppe des Internats, sie erkannte Caspar und Philipp.
Sie tranken Kaffee, bis ihnen warm wurde. Sie sprachen über Johannas Leben in London, ihre Freunde und das Auktionshaus, in dem sie arbeitete. Irgendwann beugte sie sich über den Tisch, Leinen hielt ihren Kopf, als er sie küsste, ein Teller mit Brot fiel auf den gekachelten Boden und zersprang. Leinen dachte daran, dass sie morgen früh gehen würde, zurück nach London in ein anderes Leben, das er nicht kannte.
Gegen fünf Uhr wachte er auf, das Zimmer war noch dunkel. Johanna saß nackt auf dem Boden vor der Balkontür, sie hatte die Beine angezogen, den Kopf stützte sie auf die Knie, sie weinte. Er stand auf und legte ihr die Decke um die Schultern.
Am nächsten Morgen brachte er Johanna zum Flughafen. Menschen begrüßten und verabschiedeten sich, es gab keine Strafprozesse, die ihre Kindheit zerstörten. Johanna küsste ihn, ging durch die Ticketkontrolle und verschwand hinter einer blinden Scheibe. Er hatte Angst, sie zu verlieren, so wie er Philipp verloren hatte. Plötzlich bewegte sich alles um ihn zähflüssig. Bänke, Boden, Menschen und Geräusche wurden dumpf und fremd, das Licht stimmte nicht mehr. Ein junges Mädchen mit einem Rollkoffer rempelte ihn an, ohne dass er ausweichen konnte. Leinen stand fast zehn Minuten unbeweglichin der Halle. Er sah sich von außen, ein Fremder, zu dem er nur eine undeutliche Verbindung hatte. Irgendwann konnte er sich zwingen, seine Hände zu falten, er versuchte sich an Form und Größe der Finger zu erinnern und langsam kehrte er zurück. Er ging zur Toilette, wusch sich das Gesicht und sah sich so lange im Spiegel an, bis er sich selbst wieder spürte.
Im Flughafenkiosk kaufte er alle Zeitungen und las sie im Auto auf dem Parkplatz. Die Boulevardzeitungen brachten den Prozess als Aufmacher. Eine Politesse klopfte an die Scheibe und sagte, er dürfe hier nicht parken.
12
An den ersten fünf Prozesstagen hörte das Gericht Zeugen und Sachverständige. Die Vorsitzende Richterin war gut vorbereitet. Sie fragte routiniert und gründlich, sie schien unvoreingenommen. Es gab keine Überraschungen, die Zeugen sagten so aus, wie sie das bereits vor der Polizei getan hatten. Oberstaatsanwalt Reimers hatte kaum Fragen, manchmal ergänzte er einen Punkt.
Mattinger beherrschte den Prozess. Als erster Sachverständiger wurde der Gerichtsmediziner gehört. Mattinger fragte Professor Wagenstett nach Schusswinkeln, Ein- und Austrittswunden, nach Stanzmarken, Abständen und Tritten, er ließ ihn an den Fotos die Einzelheiten erklären. Leinen sah, wie sich die Schöffen vor den Obduktionsbildern ekelten,sie würden ihnen im Gedächtnis bleiben. Mattinger fragte in einer Sprache, die alle verstanden. Immer wenn Wagenstett einen medizinischen Ausdruck verwandte, verlangte Mattinger eine Übersetzung, und wenn der Rechtsmediziner keine hatte, ließ Mattinger ihn mit einfachen Worten beschreiben, was er sagen wollte. Nach zwei Stunden stand vor jedem im Saal das Bild eines brutalen Mannes, der einen wehrlosen Greis in die Knie zwang und ihm von hinten in den Kopf schoss. Mattinger hatte nicht ein einziges Mal die Stimme erhoben, es gab keine großen Gesten. Der
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