Der Fall D. - Eine Stalkerin packt aus
Stellenwert in der Klasse
erarbeitet. Wenn es jemanden gab, der einen Lehrer zur Weisglut bringen konnte,
ohne mit der Wimper zu zucken oder Angst vor den Konsequenzen zu haben, so war
ich das. Auch mein äußeres Erscheinungsbild hatte sich stark verändert. Flickenjeans,
Gammelpullis, Jeansjacken mit zig Buttons, hohe Stiefel und lange Haare. Der
ganze Auftritt war provokant und mit meiner Art provozierte ich über alle
Grenzen hinaus. Natürlich aus Überzeugung, sodass jeder Elternsprechtag für
meine Mutter ein Gang nach Canossa war. Und es kam nicht gerade selten vor,
dass sie zu Extraterminen eingeladen wurde.
„Was
können wir nur mit Ihrer Tochter noch anstellen! So ein intelligentes Mädchen.
Aber so geht das nicht. Ihre Leistungen sind eine einzige Katastrophe! Sie muss
sich zusammenreißen, und das ganz schnell, sonst ...“ Meine Mutter war nach
diesen Gesprächen verheult und kleinlaut. Konsequenzen hatte das für mich zu
Hause allerdings nie, denn ich ließ mir zu diesem Zeitpunkt von niemandem mehr irgendetwas
sagen und machte weitgehend, was ich wollte.
Einer
von den Jungs aus der Klasse fasste sich ein Herz und kam langsam auf mich zu.
„Du,
Daniela, weißt du schon das Neuste?“ Nein, wusste ich nicht, woher auch? Aber
ich spürte, dass irgendwas Komisches im Busch sein musste, denn der Junge lief
vor meinen Augen puderrot an.
„Ja,
weißte, deine Mutter … äh … sie ist halt erwischt worden beim ... Im Wald in so
’nem komischen blauen Auto mit so ’nem Typ. Das ganze Auto hat gewackelt ...“
Wumm!
Das hatte gesessen.
Ich
hatte es gewusst, die ganze Zeit schon hatte ich gewusst, dass meine Mutter sich
in eine Affaire vor ihrer schlimmen Ehe gerettet hatte. Zumindest hatte ich es
geahnt. Wie oft ich sie als Kind angefleht habe, sich doch endlich von meinem
Vater scheiden zu lassen, weiß ich nicht mehr, aber sie hat es einfach nicht
getan. Warum? Heute glaube ich, der Hauptgrund lag im Fehlen eines sozialen
Netzes, das eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern aufgefangen hätte.
Abhängigkeit.
Als
sie mit achtzehn schwanger wurde, wollte sie meinen Vater gar nicht heiraten,
aber er hatte eine Pistole und drohte, sich damit umzubringen, falls sie es
wagen sollte, sich von ihm zu trennen. So blieb sie bei ihm. Noch weitere
vierundzwanzig lange Jahre, und sie ließ sich von ihm sich tyrannisieren und
überrollen. Auch sexuell.
Was
ich damals gefühlt habe, als ich auf dem Schulhof davon erfuhr, kann ich heute
nicht mehr genau beschreiben. Wahrscheinlich zog ich den Vorhang mal wieder
komplett dicht und konzentrierte mich auf meine derzeit aktuelle große Liebe. Mein
Vater fand es etwa zur gleichen Zeit heraus, wie ich in der Schule davon
erfuhr. Das Drama zu Hause bekam ich Gott sei Dank nicht mit, aber ich durfte
mir die Folgen betrachten, als ich aus der Schule kam. Die gesamte Badezimmereinrichtung
war zertrümmert und mein Vater hatte eine Platzwunde an der Stirn. Ihm war bei
seinem Wutausbruch ein Schrank entgegengekommen. Er war beängstigend still,
aber ich spürte sein inneres Beben. Meine Mutter drückte sich mit verquollenen
Augen irgendwo in der Wohnung herum und verrichtete ihre Hausarbeit.
Ich
drehte mich auf dem Absatz herum und suchte schleunigst das Weite. Wohin –
keine Ahnung. Einfach nur weg, weit weg von allem.
Eva - 2007
Sie
lächelt, während sie aus ihrer Jugend erzählt. Mehr als einmal schon habe ich
diese Geschichten gehört. Kleine Andeutungen, in ein, zwei Sätzen fallen
gelassen, am Rande erwähnt, vage formuliert. Doch bis heute nie in dieser Deutlichkeit
auf den Punkt gebracht. Ich merke, wie die Erinnerungen sie durchschütteln. Wie
sie leidet, wieder alles durchleidet, jedes einzelne beschissene Gefühl, und
sehe die Bilder, die sie malt. Abstrakte Zeichnungen, bunt, vielfarbig und auf
den ersten Blick verwirrend, nichtssagend, konfus … Ihre Hände sind mager, die Finger
dünn wie das ganze Menschlein. Man sieht ihnen die Wunden nicht an, vielleicht,
wenn man sie genauer betrachten würde, könnte man die eine oder andere Narbe erahnen.
Ganz
stolz zeigt sie ihren rechten kleinen Finger. Ein Nagel von beachtlicher Länge,
transparent lackiert, und ich sehe, dass sie sehr gut darauf achtet, dass ihm
nichts zustößt. Wir reden über Maik, ihre aktuelle größte Lebensliebe. Seine
Gefühle reichten einfach nicht, um den ihren das Wasser reichen zu können. Ich
frage mich manchmal, ob es überhaupt jemanden geben kann, der diesem
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